Samstag, 9. März 2019

Gitarristenkleid

GITARRISTENKLEID

Der Gitarrist schwebte in einer Reihe von taumelnden Giganten. Auf jeder der Gigantenschultern schwelte eine Glut von Feuern, die an den Klängen zerborsten waren. Den Gitarristen beschäftigte nur die Reihe selbst, in deren Mitte er sich hin und her bewegte und seine Finger laufen ließ, dabei hier und da sich an einer der Schultern verbrannte und Gefahr lief, dass sein buntgeschecktes Gitarristenkleid am Ende auch noch Feuer fing, wie es bereits das silbrige Schlagzeugerinnenkleid getan hatte, und davor das dunkelviolette Sängerkleid. Tatsächlich waren alle bereits verbrannt außer dem Gitarristen, oder besser, deren Kleider waren verbrannt, ihre Haut lediglich mit Narben geschmückt. Sie lagen noch immer nackt und stöhnend am vorderen Rand der Bühne, wo sie vom Publikum, das auf den Gigantenschultern Popcorn briet, mit Spucke bespritzt wurden, wann immer jemand sich an den tiefsten Grund eines Maiskorns gebissen hatte und seine eigene Verletzlichkeit in Form einer blutigen Murmel entdeckt hatte, einer Murmel, die an einer gewellten Bahn in den Magen dieser einen Person rollen würde, und dieser einen Person fortan als eine Erinnerung an die Spucke und die Gigantenschultern und die Maiskörner und die nackten Menschen auf der Bühne dienen würde. Von den Nackten erhoben sich nun zwei, richteten langsam ihre Oberkörper auf, bis sie, schlagartig erstarrend, Augenkontakt hergestellt hatten. In ihrer Position verharrten sie nun, stumm aufeinander bezogen. Der Gitarrist hatte sich inzwischen zwischen den Tönen seiner Strickleiter verloren, und war ein Niemand geworden, und als solcher bedeutungslos. Das schuf natürlich Möglichkeiten, denn in seinem Metallsaitengesang spiegelte sich nun eine Leere wieder, die von den Umstehenden ausgestrahlt worden war und nun auf sie selbst zurückstach. Verwundet begannen sie sich zu kratzen, einem schrecklichen Juckreiz blind gehorchend, bis sie in elendem Tanze zu Boden gingen. Die ganze Breite der Bühne spiegelte sich nun in sich selbst, und in deren Mitte starrten sich die beiden Nackten mit den aufgerichteten Oberkörpern an, nichts von den Geschehnissen um sich wahrnehmend. Zwischen ihnen befand sich ein Universum an Möglichkeiten, eine jede von ihnen ungenutzt und frisch. Die Gitarre war zu einem Brutkasten geworden, der unablässig weiter wuchs und um die Bühne eine pulsierende Hülle zu bilden begann, freilich von vielen Löchern durchnetzt, in denen die Plektra sich in kleinen Wirbelstürmchen versuchten, gegenseitig anzuregen. Und der Wind rauschte immer lauter, blies das eine oder andere Feuer auf den Gigantenschultern wieder ins Leben, tauchte den Raum in einen fließenden Schaum; ein Schaum von sanftem Magenta, der nun in die Münder der Popcornessenden eindrang und sich dort mit den Stimmbändern umschlang, sodass quallenartige Töne hervorzudringen begannen und kleine Blitze durch die Brusthaare sprangen, eine gewaltige Sprengkraft, deren zerstörerischer Abschiedsgesang den Gitarrenbrutkasten aufschlitzte. Fetzen von sich selbst zerbissenen Reihungen flogen um den Gitarristen, der wild mit seinem bunten Gitarristenkleid um sich schlug, um sich der Schlachtenbrut zu erwehren. Zwischen den Nackten, die mit aufgerichteten Oberkörpern immer noch einander gegenübersaßen, hatte sich eine verdichtete Leere gebildet, die nun langsam begann, in einem tiefen schwarzen Farbton zu summen, eine tintige Wolke, die sich über die Bühne ergoss, und in der die restlichen Mitglieder der Band nun ertranken, bis auf den Gitarristen, dessen buntes Kleid sich nun mit schwarzem Saft vollgesogen hatte, und der in einer letzten Kraftanstrengung den Gitarrenkasten öffnete.

2019-01-10, Jundurg Delphimė

Mittwoch, 27. Februar 2019

Üpdäätle -47-

Der Februar ist jedes Jahr viel zu schnell um, was nicht daran liegen kann, dass er ein paar Tage weniger hat, immerhin wirkt er eher halb so lang wie der Januar. Ich vermute, dass die da oben irgendwie schummeln mit der Zeitvergabe.^^

~

Ich habe das Jahr 2019 mit recht viel Neuer Musik begonnen, und das setzt sich auch noch ein weiteres Monat fort. Für den Februar hatte ich allerdings ein etwas anderes Konzept.

Meine Erfahrung im Januar war ja, dass ausgerechnet das Stück, das mir beim ersten Mal hören am schrecklichsten erschien, sich am Ende zu einem Favoriten entwickelte. Also habe ich weitergedacht - dann kann ich diese instinktive Ablehnungsreaktion ja zum Ausgangspunkt nehmen, ein Feld in Angriff zu nehmen, das ich mein ganzes Leben so weit wie möglich vermieden habe: Die Barockmusik.

Über meine tiefsitzende Abneigung gegenüber Barockmusik habe ich schon öfter mal geredet - meine neueste Hypothese dazu basiert auf dem Tetris-Effekt:
Wie heftig dieser sein kann, habe ich erst vor wenigen Wochen wieder mal deutlich erlebt, und zwar sogar mit dem namensgebenden Tetris selbst, der König*in der Computerspiele... aufgrund eines Internetausfalls hatte ich für einige Tage ein Loch, und dieses wurde dann mit einer Tetris-Sucht gefüllt; das hatte ich nämlich zufällig direkt vor dem Ausfall heruntergeladen. Die Folgen waren erschreckend: Selbst während dem Lesen eines durchaus spannenden Buches war ein Teil von mir im Hinterkopf ständig beschäftigt, Teile zu drehen, in Löcher zu fügen und sogar ein vages Modell eines ganzen Spielfeldes aufrechtzuerhalten. Ich mag Tetris, aber den Effekt, den es auf meine arme Psyche hat, mag ich dezidiert nicht. Schweren Herzens also wieder deinstalliert...

Naja, jedenfalls gibt es bei Barockmusik einen ähnlichen Effekt: Die vorhersagbaren, immergleichen Harmonien laufen nach dem Ende eines Stückes in meinem Kopf weiter und verbrauchen permanent Energie (weil es natürlich nicht nur bei den Harmonien bleibt, sondern auch automatisch melodische Phrasen generiert werden - und hin und wieder verhakt sich etwas, und meine bewusste Aufmerksamkeit wird für einen Moment benötigt, um die Sache zu reparieren). Im Wesentlichen ist es ein musikalischer Tetris-Effekt. Aber während Tetris es an sich hat, geradezu unendlich variable Spielsituationen zu schaffen, ist ein einzelnes Stück Barockmusik fixiert und nach einer Weile korrekt auswendig gelernt.

Meine Februar-Hörliste besteht großteils aus Neuer Musik, aber ich habe ein Werk von Rameau und eines von Lully dazugemischt - und ein Beethoven-Streichquartett, denn auch das ist eine musikalische Gegend, die ich kaum kenne. Die Mischung ist fragwürdig, gerade auch weil ich bei der Auswahl der anderen Stücke nicht so geschickt war - scheint mir - aber der stetige zufällige Wechsel zwischen Alter und Neuer Musik erzeugt zuweilen interessante Effekte.

Aber spezifisch die Barockmusik: am Anfang war es die Hölle.^^ Ein 25-Minuten-Block Lully war mir schlicht zu viel, daher habe ich es auf kleinere Brocken zerschnitten. In den ersten Tagen hatte ich den klassischen Barock-Tetris-Effekt auf meine Psyche, der es schlicht anstrengend machte, mich damit zu beschäftigen. Dann jedoch kam ich an den Punkt, an dem die Stücke individuell wiedererkennbar wurden, und das änderte alles: Anstatt dass eine allgemeine, variable Barocktextur sich in meinem Kopf festsetzte, waren es einfach individuelle Stücke, abgegrenzt und mit einem viel geringeren Energieaufwand - da sie ja auswendig gelernt waren. Et voilà: Ein paar der Stücke mag ich jetzt sogar. Das ist immer noch ein wenig beängstigend, wenn ich ehrlich bin. Barockmusik zu hassen ist zu einem Teil meiner Identität als Musikerin geworden, die ich somit aufgeben muss. Naja, okay, ich werde sie weiterhin meiden, eben wegen dem Tetris-Effekt. Aber der erste Schritt einer Versöhnung wurde gemacht.

Komponist*innen in meiner Februarliste:

Armands Aleksandravičus, Mohammadreza Azin, Malin Bång, Ludwig van Beethoven, Luciano Berio, David Cope, Keith Fitch, Toshio Hosokawa, Joan La Barbara, Geon Yong Lee, Jean-Baptiste Lully, Panayiotis Kokoras, Bruno Maderna, Andrew May, Thomas Meadowcroft, Jan Wilhelm Morthenson, Jerica Oblak, Jean-Philippe Rameau, Evija Skuķe, Chiyoko Szlavnics, Julia Wolfe.

Wie auch letztes Mal habe ich nicht davor zurückgescheut, Leute dazuzunehmen, die ich persönlich kenne oder kannte. Das fühlt sich seltsam an, aber irgendwie mag ich mich diesbezüglich überwinden... und es einfach so machen. Ob ich wieder ausführlich über alle Stücke schreibe, weiß ich noch nicht. Mal sehen.

~

In meinem Vorstellungspost hier im Blog schrieb ich noch, dass ich er- und sie-Pronomen wechselweise benutze, das hat sich mittlerweile geändert. Zwar pendle ich ein wenig hin und her, aber die meiste Zeit bin ich mit "sie" ganz komfortabel, und habe es somit zum Standard festgelegt.

(Viele trans Personen hassen den Begriff "preferred pronouns", da es sich bei ihnen um keine Präferenz, sondern eine Notwendigkeit handelt. Aber ich bin eben genderfluid und daher ist eine 100%ge Festlegung nicht so wirklich absehbar. Es fällt mir allerdings leichter, mich als "Komponistin" zu bezeichnen, als noch vor einem halben Jahr.)

~ Jundurg Delphime

Samstag, 9. Februar 2019

Neue Musik im Jänner - Resümee


Moin!

Meine Jänner-Playlist - ich wollte das neue Jahr mit Neuer Musik beginnen. Das Ergebnis meines Durchhörens ist wie folgt - die Reihenfolge ist zufällig, wie sie auch beim Abspielen stets zufällig war.

~ ẞ ~

Luigi Nono : Prometheus Suite

Langsame Einzeltöne, die in den Raum gesungen werden... Mit Nono hab ich mich auch, als ich ihm im Studium einmal kurz begegnet bin, recht schwer getan. Wie ein Stück wirkt, hängt jedoch stark vom Kontext ab – und in dieser Liste gibt es viele hektische, prägnante Sachen, dadurch freue ich mich im Grunde, wenn etwas ruhiges auftaucht. Dabei ist das Nono-Stück allerdings von einer inneren Spannung erfüllt, somit ist diese Beschreibung etwas zu kurz gegriffen. Durch das Tempo ist es möglich, den Harmonien im Detail zu folgen – dementsprechend würde es auffallen, wenn es hier eine Schwäche gäbe. Das spricht für Nono.
Hin und wieder knarzt etwas dazwischen – Bassklarinette? Bin mir nicht sicher – das sorgt vermutlich für manche Hörer*innen für eine Auflockerung des gleichmäßigen Voranschreitens – ich empfinde das in den ruhigen Abschnitten eher als störend, das Stück könnte auch konsequent ohne schnarrende Klangfarben auskommen, bzw. diese nur zum Abschluss einer Phrase (was auch passiert). Es gibt natürlich noch größere Bogen. Form ist für mich selten ein Kriterium, ich höre ein Stück oft und es hinterlässt dann einen Eindruck, der ohne ausgeprägte Zeitdimension auskommt.

Nam Hoon Kim : Le temps retrouvé

Ein Bläserquintett. Das Stück ist einfacher gebaut, bedient sich einerseits harmonischen Feldern, in denen ich verschiedene Skalen höre; mal angedeutet, mal konkreter und grundtönig zentriert. Auch der Rhythmus wirkt eher scherzhaft auf mich. Irgendwie schade? Die Instrumente Oboe und Fagott, die sind ja bereits scherzhaft, einfach durch ihren Klang, da braucht es nicht mehr viel. Freitonale Klänge, die im Kontext der anderen Stücke irgendwie altmodisch wirken – in der Umgebung ist das eben auch schwer, und die Besetzung macht es auch extra schwierig.

(Ich hab einige Zeit mit Nam Hoon studiert, bis er irgendwann nach Boston verschwunden ist. Einige seiner Stücke während unserer gemeinsamen Studienzeit fand ich genial, insbesondere aus den ersten Jahren, da war viel Konzeptuelles auch dabei; inzwischen hat er sich meinem Eindruck nach ein bisschen zu sehr zähmen lassen von den Unis...)

Isabel Mundry : Sandschleifen

Auch hier gibt es Zentraltöne, und die meiste Zeit meinem Eindruck nach eine recht statische Harmonik – es moduliert aber sozusagen auch, aber wenn ich „moduliert“ schreibe, dann deshalb, weil es eben das Gefühl gibt, von etwas Statischen wegzugehen, und auch ein Gefühl, später wieder dahin zurückzukommen. Das passiert gleich zu Beginn auch einmal: Dieser ist gleich sehr energiegeladen; zum Anfangsakkord wird nach etwa dreißig Sekunden wieder zurückgekehrt und dieser dadurch als Anker markiert.
Der Rhythmus erinnert mich an Boulez; immer wieder Flächen, und schnelle Bewegungen von einer Fläche zur nächsten. Das allerdings ist nur ein grobes Gerüst, es passiert viel mehr und ist auch sehr abwechslungsreich. Aber eben in einer von vielen anderen Werken vertrauten Weise...

Luciano Berio : Glosse

Ich hab mich immer gleich kurz gefreut, wenn die Pizzicatoklänge dieses Stück ankündigten. Es ist ein Streichquartett, das zwar harmonisch nicht überrascht, aber mit einem gewissen Nachdruck kommt, Aggressivität, wie sie Streichinstrumente manchmal in sich haben, und die genügt, um auch mich nebenbei Hörende aufhorchen zu lassen.

Wolfgang Mitterer : Little Smile

Mitterers Stücke höre ich immer wieder gerne, sie sind ein summendes, flirrendes, schillerndes Chaos. Ich gebe aber auch zu, dass ich mehr als eines oder zwei solcher Stücke hintereinander meist nicht hören kann; in einer über acht Stunden langen Playlist ein so ein Stück zu haben, ist aber wunderbar. Immer wieder tun sich kleine Fenster auf in andere harmonische Welten, bleiben für zehn Sekunden offen, und gehen wieder zu. Diese Fenster machen für mich den Reiz des Stückes aus, sie sind der Grund, warum es trotz des irgendwie „gleichförmigen“ Chaos nicht langweilig wird.

Isabel Mundry : Mouhanad

Das Stück hat in der Liste eine schwierige Position: Es hat klar verständlichen deutschen Text, was heißt, dass ich es oft übersprungen habe, wenn ich gerade etwas lesen wollte.

Einerseits finde ich es gut, dass sich eine Komponistin der Flüchtlingskrise als Thema annimmt, andererseits überzeugt mich das Ergebnis doch nicht so ganz.

Der Text für sich funktioniert wunderbar, insofern als dass es möglich ist, ihn zu verstehen – was bei Vokalwerken zu selten der Fall ist – und auch die Musik funktioniert, ich habe mir anfangs sogar einmal gedacht „So muss für Chor geschrieben werden!“, und bei Vokalmusik bin ich notorisch überheikel. Aber die Verbindung zwischen beiden? Für die Chormusik ist der Text nicht notwendig, daher könnte ich das Stück auch ohne Text hören, und würde es vielleicht so mögen. Der Text wiederum könnte auch einfach gelesen werden, glaube ich. (Aber ich gebe zu, dass ich ihn wohl nicht lesen würde, und daher erst in Form dieses Stückes wirklich bewusst höre. Ein Punkt für Mundry, I guess.)

Thomas Meadowcraft : Cradles

Ein Stück mit zwei Ebenen: Da sind die langsamen, gezupften Klänge, die wirklich sanft in den Schlaf wiegen könnten. Darüber aber liegt ein zuweilen plätscherndes, zuweilen aber auch aggressives, Mobile aus Sounds. (Auch ein Mobile hängt über einer Wiege.) Während dem Hören wechsle ich dazwischen, einmal lasse ich mich einlullen, dann werde ich wieder von wildem Geblubber oder Schellenklimpern aus dem Schlaf gerissen. Ich weiß nicht, was die Intention dieses Stücks ist, aber es gefällt mir irgendwie. Ob es mich beruhigt, hängt von der Tageszeit ab, was ich davor gehört habe, ob ich bequem liege, ob ich müde bin... meist beruhigt es mich nicht. Der starke Kontrast zwischen den beiden Ebenen bewirkt, dass ich in mir ein Bedürfnis spüre, auch mal nur das Ruhige für sich zu hören. (Aber natürlich wäre das auch recht langweilig, so allein.) Die Harmonien sind minimalistisch, immer leicht veränderte Variationen von Akkorden, die aus progressiver Popularmusik oder Jazz entsprungen sind.
Es ist definitiv ein Stück, das mir in Erinnerung bleibt, weil es aus der Masse heraussticht, es ist etwas komplett anderes als der Rest der Liste.

Isabel Soveral : Keep Invention in a Noted Weed

Live gespielte Musik und Elektroakust, so ineinander verzahnt, dass ich nicht immer sagen kann, was ich gerade höre. Klavier, Violine, Marimba. Hin und wieder drängt sich ein elektronischer Klang aber ganz in den Vordergrund. Soveral hat einige ziemlich unangenehme scharfe Dauertöne gewählt, im Vergleich dazu wirken Klavier und Geige sanft, auch wenn sie durchwegs düster und scharf dissonant gesetzt sind. Marimba hat eine gewisse Lockerheit natürlich an sich, das gleicht aus. Ich würde sagen, kompositorisch ist es klar eines der stärkeren Stücke in der Liste.

Jan W. Morthenson : Coloratura III

Ein recht kurzes Stück, das mir beim Durchhören nie wirklich bewusst in Erinnerung geblieben ist, weil es recht anonyme Klänge sind... aber jetzt, wo ich darauf achte, ist es eine sehr angenehme Hörerfahrung. Ich habe mich sogar dabei ertappt, dazu einen Ton zu summen. Die statische aber sich stetig wandelnde Wolke erinnert mich auch unmittelbar an Avet Terterians Symphonien – und von denen halte ich viel!

Hans Zender : Canto II

Die Musiksprache ist meinem Gefühl nach nah an einigen Henze-Werken, (den mittleren, experimentelleren, den Opern auch?). Sehr expressive Chorklänge, die mich aber irgendwie wenig bewegen, und deren Expressivität somit mich sogar stört, weil ich nicht das Gefühl habe, dass viel dahinter steckt, bzw. dass sie eher ein Nachhall der Zweiten Wiener Schule sind, als etwas für sich neues. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich so viel Henze gehört habe, dass ich einem ähnlichen Stil ein bisschen überdrüssig bin. Im Umfeld dieser Playlist kann es also nicht so wirklich punkten, obwohl es eigentlich viel zu bieten hätte, es ist definitiv abwechslungsreich und spannend – vielleicht sogar zu sehr. Wahrscheinlich es ein Ausschnitt etwas größeren, dessen Kontext hier dann fehlt.

Errollyn Wallen : Triple Concerto

Der größte Fremdkörper in dieser Liste. Kompositionstechnisch ist dazu nicht viel zu sagen, es ist natürlich etwas völlig anderes – harmonisch sehr einfach. Meine persönliche Abneigung gegenüber Violinen lässt mich meinen, dass das Konzert ohne ein Violinsolo ausgekommen wäre.
Nach einem kurzen expressiven Start beginnt es schnell jazzig zu werden. Der zweite Satz begibt sich dann in eine andere Region, für mich assoziiert mit dem Nahen Osten. Viele unisono vorgetragene Linien über einem statischen Orgelpunkt. Im dritten Satz wird es noch einmal jazzig wie im ersten, allerdings harmonisch sogar noch einfacher, hier sind wir dann wirklich in der Popularmusik angekommen, aber immerhin mit Schwung.

Es ist für die Planung einer solchen Liste günstig, wenn es ein paar stilistische Fremdkörper gibt; weniger zur Auflockerung, sondern dazu, die anderen Stücke immer mal wieder in einem anderen Kontext zu hören – wenn sie unmittelbar auf dieses folgen, ist das einfach eine andere Hörerfahrung als sonst. Errollyn Wallen war bereits Teil meines ersten solchen Listenhörprojekts vor zwei Jahren, deswegen habe ich mich an den Namen erinnert, und sie wieder eingebaut. Einige ihrer Stücke finde ich auch richtig gut, etwa Dervish oder Peace on Earth – das Triple Concerto? Not so much. Aber eben gut als Fremdkörper.

Georges Aperghis : Quatre Pièces Fébriles [...]

Klavier und Marimba, definitiv eine gute Kombination; das erste Stück besonders eingängig durch eine Phrase, die sehr oft wiederholt wird. In einem der weiteren Sätze fiel mir eine Stelle auf, an der sehr plakativ eine chromatische Tonleiter durchexerziert wird. Das kann richtig cool funktionieren, wenn es noch sehr sehr sehr viel extremer gemacht wird, hier wirkt es eher ... einfallslos, an dieser Stelle. Das sind die Stücke aber sicher nicht. Ich mag vor allem die kleinen Blöcke von Repetitionen, die mich sehr an etwas erinnern, was ein Algorithmus ausgespuckt haben mag, ein Festhängen an wenigen Tönen, aber mit viel rhythmischer Energie, die sich einfach mal entladen muss.

Georg Friedrich Haas : Release

Dieses Stück ist zu lang, um „spannend“ zu sein, aber gerade lang genug, um den Ohren etwas bieten zu können; ich höre es gerne. Harfentöne zu mikrotonal ausgefeilten Durklangflächen? Diese Art Musik hätte mich früher sehr frustriert – und würde es vielleicht immer noch, wenn ich sie im Zuge eines Seminars auf der Uni hören müsste; dafür passiert zu wenig. Aber für meine Präferenz des Eher-im-Hintergrund-Hörens passt es naturgemäß gut.
Es gibt eine seltsame Coda, in der noch einmal viel glissandiert wird – da hab ich beim Hören öfter mal nachsehen müssen, ob das noch zu Haas gehört oder ein anderes Stück ist.

Der klare Bezug des Titels auf Sexualität (es wurde nach seinem Coming-Out als Teil der BDSM-Community geschrieben) führt nicht zu etwas, das ich hören könnte. Aber vermutlich war es für Haas eine interessante Erfahrung, es mit diesem Konzept im Kopf zu schreiben. Ich begrüße das – zu sagen, die Musikszene wäre prüde, wäre aber übertrieben, immerhin kenne ich auch kaum Stücke, die andere Grunderfahrungen wie Hunger, Durst oder Lachen in die Musik tragen wollen. Jedenfalls als Grunderfahrungen. Wobei die eben Genannten natürlich noch deutlich grundlegender sind, als Sexualität. Und Stücke über Einsamkeit – davon gibt's eher schon zu viele, oder?

Chaya Czernowin : FardanceCLOSE

Das kürzeste Stück in der Liste. Erst in den höchsten Registern, dann in der Tiefe grollend, das Klavier, das dann unerwartet in eine neoromantische Tonfolge bricht – und dort dann stehenbleibt, in einer sehr sehr langen Coda, in welcher der selbe Akkord (mit Vorschlag) in immer größeren Abständen angeschlagen wird, bis zum Schluss etwa zwanzig Mal. Dieses Stehenbleiben auf einem Akkord macht beinahe die Hälfte der Stückdauer aus. Ein sehr eigenartiger Effekt also. Es hinterlässt ein mulmiges Gefühl.

Malin Bång : ripost

In den ersten Tagen des Hörens habe ich öfter mal nachgesehen, was ich denn gerade höre:
„Das klingt gut, was ist es? Malin Bång.“
„Das klingt gut, was ist es? Malin Bång. Schon wieder?“
„Das klingt gut, was ist es? Malin Bång. Ach ja.“
Anfangs war dieses Stück somit ein klarer Favorit. Diesen Platz hat es dann allerdings abgeben müssen. Die Klänge sind abgefahren, das zeichnet dieses Stück aus. Geräuschhaft wie Lachenmann, aber aggressiver. Da wird mit Eifer geschrubbt und gekratzt, und irgendetwas jammert im Hintergrund. Glocken schlagen.
Wie gut dieses Stück funktioniert, hängt stark von der Lautstärke ab, mit der ich es höre. Es braucht ein gewisses Volumen, damit das Kratzen nicht einfach nur ein Hintergrundgeräusch ist, das ausgeblendet wird.

Øyvind Torvund : Neon Forest Space

Dieses Stück hat wohl den einprägsamsten Anfang. Sehr energiegeladen – im akustischen Sinne, also viel Geräusch – aber es lässt dann sehr schnell nach, wie der Wald im Titel suggeriert, Vogelgesänge, irgendwie auch in Dur. Irgendwelche Waldtiere machen Geräusche, aber auf der harmonischen Ebene passiert nichts. Ich mochte dieses Stück am Anfang sehr, weil es wirklich drollig ist. Mit der Zeit hat es aber seinen Reiz verloren – ich habe es einige Mal übersprungen, gerade weil die „alpinen“ Harmonien mir irgendwann auf die Nerven gegangen sind. Fürs Oft-Hören also irgendwie nicht das Wahre, aber wer ein Stück nur einmal hören will, der würde ich es sogar empfehlen. Es ist ja drollig...

Evija Skuķe : Garām

Ein reines Schlagzeugstück. Für einige Abschnitte habe ich das Gefühl, da würde bloß der Klang der Instrumente ausprobiert, alles einmal angeschlagen; hin und wieder klingt es dann aber so, als ob im Hintergrund eine urtümliche Horde vorbeizieht, eine Weile näherkommt, dann sich wieder entfernt. Steinzeit? Ich habe am Anfang wenig mit dem Stück anfangen können, aber jetzt gerade mag ich es gerne. Das wilde Finale funktioniert aus meiner Sicht nicht ganz so gut, wie der Teil davor.

Laut Google heißt "garām" soviel wie "past", also vergangen? Könnte mit meiner Steinzeit-Assoziation ja passen.

Chiyoko Szlavnics : (a)long lines

Beim ersten Mal Hören habe ich dieses Stück sofort gehasst.

Und wie es bei mir häufiger vorkommt, hat sich dieses Hassen mit der Zeit in eine tiefe Faszination umgewandelt. Sehr sehr langsame Töne, viele Glissandi, schneidend teilweise, manchmal aber auch wie Sirenen; dazwischen immer wieder der Schlag einer tiefen Trommel, der dem Ganzen den Eindruck eines Rituals verleiht. Alles geschieht langsam, auch das düstere Vibrieren eines sehr tiefen Tones, von Trommeln oder von Schwebetönen, rollt langsam heran, wie eine Naturmacht. Von allen Stücken hat dieses aus meiner Sicht den „außereuropäischsten“ Charakter, was vor allem an den Trommelschlägen liegt, welche die in Zeitlupe betrachteten Entwicklungen immer wieder abrupt unterbrechen.

Ich will auf jeden Fall noch mehr von Szlavnics hören, ich bin schon gespannt.

Philip Cashian : Chamber Concerto

Enorm effektvolles Stück. Meine Meinung darüber hat sich mehrfach geändert – anfangs fand ich es eines der stärksten Stücke, dann mit der Zeit ist meine Meinung viel negativer geworden; es scheint mir nämlich so, dass es harmonisch in gewissem Sinne zu perfekt balanciert ist, es ist auf eine jazzige Art und Weise atonal, das haben irgendwie mehrere britische Komponist*innen gemeinsam. Es scheint mir also in der Hinsicht weniger spannend, auf einer Meta-Ebene – verglichen mit anderen Werken dieser Liste. Aber für sich betrachtet ist es ein sehr abwechslungsreiches, interessantes Stück, das ordentlich fetzt.

Salvatore Sciarrino : Introduzione All´Oscuro

Die Sorte von Stück, mit der ich mir schwer tu. Lange Zeit passiert fast gar nichts, es gibt einzelne vorbeifliegende Streichernachtfalter, aber das war's auch schon. Nacht halt. Gegen Ende habe ich das Gefühl, dass noch ein wenig etwas beginnt, anzuheben, ein Herzschlag? Ein seltsamer Nachhall einer romantischen Hausmusik, in Dur?
Pötisch beschreiben lässt es sich offensichtlich, aber mögen tu ich es deswegen nicht.

Luigi Nono : ... sofferte onde serene ...

Ein Klavierstück, das kompositorisch gut ist, aber mir nicht spezifisch in Erinnerung geblieben. Mein Eindruck davon wurde von diversen anderen Stücken in der Liste überschrieben, bzw. hat sich damit vermischt. Wenn ich bewusst darauf achte, stelle ich fest, dass ich die Cluster in hohen und tiefen Lagen recht mag – was mir an dem Stück vielleicht fehlt, ist eine Art übergeordnete Idee, damit meine ich kein Konzept, auch nicht unbedingt eine Form, sondern eher so eine Art Signal an mich als Hörerin, das mir sagt, worum es geht. Ohne dieses ist es einfach eine sehr gute Komposition, die ein angenehm düsteres Intermezzo zwischen den anderen Werken bietet.

Luciano Berio : Epiphanie

Das könnte – wenn ich so über die Liste sehe – das älteste Stück hier sein. 1961, wie es scheint. Es klingt für mich auch ganz spezifisch nach dieser Zeit, wie ein Stück Radio, ein Kommentar über das Abklingen des Serialismus der Fünfziger. Harmonisch definitiv auf einer anderen Liga als viele Stücke in der Liste, durchwegs fein balancierte Atonalität; es ist zu hören, dass sie durch die Ära geprägt wurde. Wie aus dem Radio klingt auch die Stimme, die erzählt, singt, aber auch hin und wieder jauchzt und kichert.
So richtig in Erinnerung geblieben ist mir dieses Stück aber nicht. Fast jedesmal dachte ich mir „naja, ich müsste es halt noch öfter hören.“ Aber wie oft? Es gefällt mir ja, aber es gefällt mir als guter Repräsentant dieses Stiles, nicht als individuelles Stück. Daran ändert auch die Stimme nichts, vermutlich, weil ich deren Sprache nicht verstehe. Der Stil ist – das sollte ich vielleicht noch dazusagen – kein Serialismus, sondern eine recht verspielte Atonalität... kann ich es besser beschreiben? Eben überhaupt nicht punktuell, sondern voller kleiner Motive, rhythmischer Ballungen, opernhaftes Drama. Insofern klingt da vieles drin mit. Ein wenig ist es mir dann doch zu gehetzt, als dass ich es noch viel öfter hören wollen würde.

Michael Obst : Fresko

Das Tonmaterial entfaltet sich zu Beginn langsam, systematisch; normalerweise mag ich so etwas eher nicht, hier funktioniert es aber, weil der Fokus auf einen Klang bleibt, der als ganzes zentral wirkt. Girlanden nehmen im Stück allmählich eine größerwerdende Bedeutung ein; das Klavier und die Harfe haben ihre jeweils eigenen Abschnitte, in denen sie im Vordergrund stehen, die sich in der Farbe so sehr vom Anfang unterscheiden, dass ich sie beim Hören als einem anderen Stück zugehörig empfunden habe.
Dass mich jedes Obststück immer irgendwie auch an Stockhausen denken lässt, liegt vermutlich daran, dass es Professor Obst war, der mir Stockhausen überhaupt erst nahegebracht hat. Aber ich denke, es gibt eine musikalische Verwandtschaft; die Harmonik ist auf eine sinnliche Art und Weise statisch, darin haben die Töne aber genügend Freiraum, um nicht zu ersticken. Überrascht mich nicht besonders, dass ein Obst-Stück in dieser Liste auch wieder zu meinen Favoriten gehört.

Isabel Soveral : Quadramorphosis

Schlagzeug und Elektronik – da ist natürlich ein riesiges Arsenal an Klängen verfügbar. Kurze Schnipsel erinnern mich (positiv) an die Anfänge der elektroakustischen Musik; das Schlagwerk für sich genommen hat aber irgendwie wenig zu sagen. Hängengeblieben sind bei mir nur die Stellen mit den etwas simpleren (d.h. auch klobigeren oder brutaleren) elektronischen Klängen.

Malin Bång : splinters of ebullient rebellion

Viel Geräusch, wie in einer Fabrikshalle. Düstere Klänge, wie ein Choral, der auf Stahltüren gespielt wird. Tippen. So viele Effekte, und jedem Effekt wird – das ist die große Stärke dieser Musik – viel Platz gegeben, sich zu entfalten.
Nicht besonders gut finde ich hingegen, wenn statt den Geräuschen plötzlich sanfte Töne klingen – denn die verwendete Harmonik ist ziemlich schwach; weiße Tasten, Pentatonik, so etwas. Klar funktioniert das als Kontrast zur Düsterkeit davor, allerdings wäre das bestimmt auch anders gegangen, milde Klänge herzustellen – die Harmonik empfinde ich hier einfach billig und langweilig, was enorm schade ist, da der Teil davor so stark war. Auch der Chor kann das nicht wirklich retten.
Wenn ich auf den Titel des Stückes gucke, vermute ich mal, dass hier eine Art Unterdrücker-Unterdrückte-Gegensatz hergestellt wird. In dem Fall haben die Unterdrücker dann aber die bessere Musik... die maschinellen Klänge können sich gegen die simple Weißetastenharmonik allerdings kaum zur Wehr setzen, die klingt selbst dann im Kopf weiter, wenn die Maschinen wieder auffahren. Also irgendwie bleibe ich unzufrieden zurück. Das hätte viel besser sein können. Ich könnte sogar so dreist sein, mir nur den maschinellen Anfang herauszuschneiden und separat zu hören.

João Pedro Oliveira : In Tempore

Wieder tritt Klavier gegen Elektroakustik an. Harmonisch ist es recht solide, statische Klangfelder werden immer wieder kurz erreicht und wieder verlassen. Die elektronischen Klänge fügen sich einerseits gut in das Ganze ein, sind aber oft genug auch eigenständig: Kompositorisch kann ich nichts daran aussetzen, es ist gute Musik. Die vielen Repititionstöne irritieren mich ein wenig; sie verstärken die Assoziation mit Boulez, die sich mir ohnehin schnell aufdrängt bei dieser Besetzung und dem Klangstil. Es ist also einer der Stücke, die so gut gearbeitet sind, dass sie in der Menge untergehen, weil es ihnen an eigenständigen Fehlern mangelt. Irgendwie schade. Gegen Ende verstärken sich Reminiszenzen und Klangfelder werden tendentiell länger gehalten, das funktioniert gut und erzeugt einen absteigenden Spannungsbogen.

Bruno Maderna : Giardino Religioso

Maderna ist einer der Komponisten, die irgendwie an mir vorbeigegangen sind, und bei denen dieser Umstand bedauerlich ist. Auf der Uni kann ich mich auch nicht erinnern, dass er mir je untergekommen wäre. Die Musik ist auf der harmonischen Seite qualitativ hochwertig.

Soviel Energie ist da!
Ich kann nicht sagen, warum während einem viele Minuten langen Abschnitt mir ständig das Es als Grundton im Kopf herumgeistert, das mag eine reine Einbildung sein, dass mein Mind beschließt, in atonaler Musik einfach mal einen Ton festzulegen und dann sich nicht mehr davon abbringen zu lassen. Ich höre dann jeden Ton, jeden Klang, in Relation zu diesem Es. Vielleicht steckt es wirklich irgendwo drin, aber das nachzuweisen...

Gegen Ende wird es wieder ruhiger, und ich genieße den Kontrast. Mittlerweile bin ich vom Es aufs D heruntergestiegen in meinem Höreindruck. Woher das kommt, würde mich echt interessieren. Naja, auch atonale Musik ist immer nur bis zu einem gewissen Grade atonal, es wird sich sozusagen asymptotisch angenähert, mit unterschiedlich viel Nachdruck, und unterschiedlich viel Erfolg. Und selten ist es überhaupt das Ziel, meist eher ein Mittel, um zu einer Harmonik zu finden, in der es eine Balance gibt zwischen dominierendem Klang und Rest, zwischen Statik und Dynamik...

Chaya Czernowin : Sahaf

Am Beginn des Stückes bin ich öfter mal erschrocken. Es ist ein recht aufdringlicher Klang. E-Gitarre und Spaltklänge in Holzblasinstrumenten... eine Ratsche knistert? Die Cluster sind rau, wirken unbehauen. Das Stück hat stellenweise irgendwie das Flair einer Bande Jugendlicher, die in einen Proberaum eingebrochen sind, um möglichst viel Lärm zu machen – jedenfalls weckt die E-Gitarre diese Assoziation. So recht schlau werde ich aus dem Stück nicht. Ich höre es einfach nicht gerne, aber ich kann nicht wirklich sagen, warum. Es besteht aus lauter interessanten Einzelelementen, aber die Verbindung gelingt (mir) nicht, sie folgen aufeinander, wechseln sich ab, und gehen mir teilweise klanglich eher auf die Nerven. (Special Effects von Blasinstrumenten mag ich persönlich nicht.)

Salvatore Sciarrino : Piano Sonata No. 2

Sehr hohe und sehr tiefe Töne kombiniert, das mag ich an sich recht gerne. Lange unregelmäßige Pausen, um den Nachhall auszukosten, eher weniger. Die Girlanden, die darauf folgen, sind ... irgendwie hübsch, haben einen impressionistischen Charme. Ich höre nach einer Weile die Regelmäßigkeit der Skalen dahinter und es verliert dann für mich seinen Reiz. Musikalisch ist diese Sonate nicht weit von der Klaviermusik eines Henri Dutilleux entfernt, dessen Spätwerk ich aber eben wegen der notorischen Vorhersehbarkeit, die sich aus den Skalen ergibt, nicht besonders mag – es hat einen gewissen Zauber, der aber eher einlullt als aufmerksam und neugierig macht.

Bruno Maderna : Quadrivium

Das zweite Maderna-Stück in dieser Liste beginnt erst einmal mit purem Schlagzeug – dadurch habe ich es manchmal mit Garām verwechselt – der Rest des Orchesters setzt dann allmählich ein, immer wieder ein Tröpfeln – in diesem Abschnitt dominiert mir das Schlagzeug dann noch lange zu sehr. Erst gegen Ende hat sich die Struktur gewandelt zu einem volleren Klang. Im Gegensatz zum anderen Stück – Giardino Religioso – finde ich, dass es diesem Stück ein bisschen an rauer Energie fehlt. Plätschern, Tröpfeln, das sind alles Beschreibungen, die ein wenig absurd anmuten, wenn sie sich auf Blechbläser beziehen.
Wieder höre ich über lange Strecken einen Grundton, eine zeitlang ein Es, dann aber ein Des. Dieses scheint mir keine Einbildung zu sein. Insgesamt ist mir das Stück ein wenig zu lange, vermutlich weil das viele Schlagzeug die Ohren ermüdet, sodass der Rest nicht mehr so gut aufgenommen werden kann.

~ ẞ ~

Das war's. Da ich momentan einen Internetausfall habe, werde ich das jetzt erst einmal posten, und später vielleicht noch meine Favoriten herauspicken. In der Zwischenzeit überlege ich mir meinen Plan für das nächste Hörmonat - das wohl irgendwie zwischen Februar und März angesiedelt sein wird.

~ Jundurg Delphimė

Montag, 4. Februar 2019

Üpdäätle -46-

2019 ist mein surreales Jahr, hab ich beschlossen, und zwar gleich am zweiten Jänner. Tatsächlich hab ich von diesem Vorhaben schon einiges umsetzen können. Zunächst sind einige Texte entstanden, bei denen ich momentan noch überlege, ob ich sie hier im Blog posten möchte; dann hab ich ein schon lange im Hinterkopf lauerndes Projekt umgesetzt und eine dadaistisch-surrealistische Abhandlung über das Weltenbasteln verfasst. Weitere Untaten ähnlicher Art folgen bestimmt.

(Das ist für mich eine Surrealismus-Rennaissance, denn um 2009 herum habe ich fast ausschließlich in absurdistischen und/oder surrealistischen Stilen geschrieben, was, da ich damals massiv vereinsamt war, mir nicht so besonders gut getan hat. Da bin ich heute in einer völlig anderen Position, wo ich mich tief hineinlehnen kann in den "Wahnsinn" und dabei keine Sorge habe, mich darin zu verlieren.)

Wie im letzten Post schon erwähnt, hat das Jahr auch mit einiger Neuer Musik begonnen; da bin ich jetzt gefühlt allmählich durch, also durch diesen spezifischen Stapel an Werken. Ich hoffe, dass ich es im Februar schaffe, dann dazu noch mehr zu sagen, d.h. zu den einzelnen Stücken. (Das ist keine leichte Aufgabe, dann dazu möchte ich eigentlich jedes Stück vor dem Kommentar noch einmal hören, und die Liste dauert eben 8 Stunden.)

Kompositorisch: Die Gunnerkrigg Chords sind weiter gewachsen, jetzt sind es über 40, was, wenn ich darüber nachdenke, mich selbst schon ziemlich verblüfft. Gerade war ich eine halbe Woche krank, und der Moment, mich endlich wieder ans Klavier zu setzen, und erst einmal eine Stunde durch die Stücke durchzuscrollen, war wirklich ein freudiger. Nach so einer Pause sammelt sich immer ein bisschen "Energie" an und führt zu etwas gewagteren Interpretationen.

Mein Orchesterstück ist seit Dezember in einer Rohfassung fertig, allerdings schiebe ich das Überarbeiten hinaus. Von der Diplomarbeit hingegen existiert ein Haufen unsortierter Ideen, die ich im Februar jetzt in einen groben Entwurf verwandeln muss.

~ eure Jundurg Delphimė

Sonntag, 6. Januar 2019

Neues Jahr, Neue Musik

Ich hatte nun längere Zeit kaum etwas neues gehört, geschweige denn etwas Neues. (Die Großschreibung bezieht sich auf "Neue Musik" als Genre) In der Nacht ins nächste Jahr hab ich dann meinem sich monatelang im Hintergrund aufstauenden Bedürfnis, mich mal wieder ästhetisch aus meiner kleinen Höhle in die Wildnis herauszuwagen, nachgegeben, und mir eine Playlist mehr oder weniger zeitgenössischer Komponist*innen erstellt.

Bei der Auswahl habe ich berücksichtigt:

  • ein Stück der Musikgeschichte, das ich bislang ignoriert hatte, nachzuholen, d.h. die "großen Namen" der italienischen Neuen Musik - Nono, Berio, Maderna
  • Komponist*innen, die in den letzten Jahren in Donaueschingen aufgeführt wurden
  • Kompositionsprofessor*innen
  • Namen, die mir zwischendurch in den Kopf geschossen sind
  • möglichst nicht nur Männer!
  • auf Youtube zu finden
  • nach Gutdünken von manchen auch 2 Stücke

Das Ergebnis waren 27 Stücke, gestern habe ich dann noch auf 30 aufgestockt, weil mir aufgefallen ist, dass ich keine Neue Musik aus Südwesteuropa kenne, und dann habe ich kurz nach portugiesischen Komponist*innen gesucht. Damit ist die Gesamtspielzeit über 8 Stunden. Drei der Komponist*innen auf meiner Liste kenne oder kannte ich persönlich - ein Professor, ein ehemaliger Studienkollege und eine Freundin. Das ist irgendwie etwas awkward, weil ich ja vorhabe, nach einem oder zwei Monaten Hören auch ein Resümee zu verfassen, aber vielleicht lasse ich diese dann einfach weg, mal sehen.

Die Komponist*innen auf meiner Liste:

Georges Aperghis
Malin Bång
Luciano Berio
Philip Cashian
Chaya Czernowin
Georg Friedrich Haas
NamHoon Kim
Bruno Maderna
Thomas Meadowcroft
Wolfgang Mitterer
Jan W. Morthenson
Isabel Mundry
Luigi Nono
Michael Obst
João Pedro Oliveira
Salvatore Sciarrino
Evija Skuķe
Isabel Soveral
Chiyoko Szlavnics
Øyvind Torvund
Errollyn Wallen
Hans Zender

Ich bin gespannt! Ein Stück, das ich beim ersten Hören sofort gehasst habe, ist mittlerweile in meiner Gunst weiter nach oben gerückt, bei vielen anderen ändert sich meine Einschätzung anscheinend je nach Tagesverfassung, und sehr oft auch einfach danach, welches Stück ich davor gehört habe. (Die Playlist wird stets in zufälliger Reihenfolge gespielt.) Ein klein wenig unfair bin ich gegenüber Mouhanad von Isabel Mundry, das nämlich einen klar verständlichen deutschen Text hat, und das ich deswegen zuweilen überspringe, wenn ich gerade schreiben oder konzentriert lesen möchte.

Sonntag, 2. Dezember 2018

The Bible According to Google Translate - Genesis 1, 26-31

(What is this? Begin here.)

Based on Genesis 1, 26-31:

And God said: "We have pictures of our fishermen, and fish, wind birds, and all those who fight against the world."

Male and female God created man who missed God and His meaning. He created God in the form of God in the image of God.

Charles and her women were created. It was done by the creatures of God.

God strikes and tells them, "There are children and birds in the air, and they go to the depths of the earth."

God said to me, "I have all the earth's herbs in all the trees that came out, and they eat. All the birds in the air, and all the beasts that are upon the earth, are all living things for every one of them. I am green plants. So."

All of God will be there, God lives in there, then smashes it and everything we got. Then there will be a break.

All animals and animals need gifts and gifts.

And God was pleased with all that he did and felt good. About 6 hours.

~

Well, it's good to see male and female God getting along well enough to create something. They've also taken pictures, though they seem to be mostly interested in fishermen.

But what about those who fight against the world? I wonder if we'll hear from them again. At least there's pictures of them as well. We got this.

New characters! We learn about Charles, who seems to be the leader of a group of women. We don't really get any information about which creatures created her - the past verses have already mentioned a plethora of beasts, so I suppose there is much space for speculation. I kind of like Charles, though - maybe we will see her again later on?

Children in the air - well, I don't know what that is about. The depths of the earth sounds ominous, though. Somewhat mystical.

Herbs that eat? God is green plants? Wild stuff going on here... I like that life-affirming verse about every animal being a living thing for itself. God comes across a little bit annoyed here, though.

Good to know that there will be a break after everything's been smashed.

This version of the bible clearly uses a sophisticated version of grammar. "Animals and animals" corresponds very well to "gifts and gifts". Maybe just using normal plural forms is not enough to express this. Or it is two groups, each of which gets their own set of gifts.

So much happened, and yet God was only satisfied for about six hours. They should be a little bit self-confident, maybe. But then, didn't they just talk about being a bunch of plants? Sounds exhausting.

Mittwoch, 28. November 2018

Fünf Wege für eine Musik des 21. Jahrhunderts

Vor Jahren bin ich auf Harry Lehmanns Die digitale Revolution der Musik gestoßen, und es hat mein Denken über Musik und Ästhetik allgemein in der Folge geprägt. Seine Kernaussage ist, dass die Musik(-ästhetik) sich angesichts technologischer Entwicklungen weiterentwickeln muss, in einer ähnlichen Weise wie sich die Malerei angesichts der neuen Technologie der Photographie verändern musste.

Lehmanns Buch zeigt viele unterschiedliche Probleme auf - die ich nicht mehr wirklich präsent habe, da es eine ganze Weile her ist, dass ich es gelesen habe - aber der von ihm propagierte Ausweg einer Gehaltsästhetik, so sehr ich ihn auch spannend finde, hat in meinem eigenen Schaffen nicht wirklich Einzug gehalten.

Für mich ist Gehaltsästhetik einfach nur einer unter mehreren Wegen, die ich entweder parallel gehen, oder zumindest im Kopf behalten will, falls ich sie selbst nicht verfolge.

Im Moment komme ich auf 5 Wege, die ich weiter unten kurz vorstellen will. Die Bezeichnungen sind noch nicht besonders schön, da muss ich wohl sehen, ob ich etwas Griffigeres finden kann.

Zunächst aber einige Anmerkungen zu einem der "Probleme", das überhaupt dazu führt, dass es Druck zu einer Veränderung gibt.

Computergenerierte Kompositionen


Mit zunehmender Automatisierung wird auch "interessante Neue" Musik irgendwann eine Massenware werden. Noch versuchen Komponist*innen, ihre individuellen Stile zu entwickeln, und sich damit abzuheben, dass nur sie selbst diese wirklich beherrschen. Aber ob durch genetische Algorithmen oder durch andere Methoden, so bin ich überzeugt, wird jeder Stil kopierbar sein. D.h. sobald eine Komponist*in mehrere Werke geschaffen hat, kann ein Computer weitere Stücke in einem ähnlichen Stil produzieren. Vielleicht nicht unbedingt perfekt, solange es nur ein Lernen anhand einzelner Stücke ist - aber wenn gleichzeitig eine große Bibliothek historischer Werke zur Verfügung steht, auf die der Computer gleichzeitig auch noch zugreifen kann - dann könnte die Qualität der computergenerierten Stücke das selbe oder ein höheres Level erreichen als die der menschengemachten.

~ ẞ ~

1. Weg: Persönlichkeit; Verhältnis der Komponist*innen zum Publikum


Wenn Partituren neuer Werke tausendfach erzeugt werden, verliert ein einzelnes Werk als solches an Bedeutung - wohl aber stellt ein menschengemachtes Werk immer noch etwas besonderes dar. Es ist "handgefertigt". Vielleicht führt das dazu, dass es wieder mehr handgeschriebene Noten geben wird, sogar handgeschriebene Partituren, signiert von der Komponist*in - ein Sammlerstück!

In der Popularmusik gibt es ja die Entwicklung, dass sich der Fokus auf Live-Auftritte schiebt; das könnte auch hier grob dazupassen. Das Menschliche wird erlebt, indem die Menschen erlebt werden, anstatt nur die Musik per se. Ist das eine Art außermusikalischer Gehalt? Ich weiß es nicht, aber es ist eine Strategie, wie sich eine Musikpraxis erhalten kann.

Das heißt aber auch, dass der Fokus von Perfektionismus wegrücken darf - denn das ist die Domäne der Technik - da Fehler ja auch zur persönlichen Note beitragen.

2. Weg: Performance; Verhältnis zwischen Komponist*innen und Ausführenden


Ein bisschen überlappt sich das mit dem vorigen Punkt - ich fasse es aber trotzdem noch als etwas eigenes auf, weil es hier eben nicht um den Bezug zum Publikum geht, oder zumindest nur indirekt.

Ich habe mir zum Beispiel Gedanken dazu gemacht, wie Noten eigentlich aussehen können, und dass es einen großen Unterschied macht, wie sie aussehen - weniger wegen technischer Eigenheiten (wie der Versuch am Anfang des 20.Jhdts., vom Fünfliniensystem abzurücken), sondern weil Musiker*innen mit den Noten interagieren. Ich finde es spannend, damit zu experimentieren.

Das ist von der Seite der Komponist*innen her gedacht. Auf der anderen Seite gibt es schlicht die Vielfalt der Interpretation, die von den Musiker*innen einem ansonsten starr vorliegenden Werk hinzufügen. Es muss auch hier nicht um Perfektionismus gehen (auch wenn auch Virtuosität sehr schön sein kann, aber die gibt es im Sport auch), sondern um die Individualität einer einzelnen Aufführung.

Ich möchte also Interpret*innen sehen, die Werke nehmen und sie radikal uminterpretieren, und zwar nicht vorausgeplant (das wäre wieder Komposition), sondern im Augenblick der Aufführung. Der zweite Satz passt gerade nicht zur Stimmung? Dann einfach den dritten vorziehen. Das Tempo ist zu statisch? Plötzliche Tempowechsel einfügen. Taktart ändern. Fehler absichtlich einbauen...

Hier gibt es natürlich einen fließenden Übergang zur Improvisation, der ich aufgrund mangelnder Planung keinen eigenen Punkt gegönnt habe. Naja, ich improvisiere eben auch gerade. ;-) Sie lässt sich allerdings ohnehin nicht klar einem Weg zuordnen, sondern steckt in mehreren drin.

3. Weg: Prozesshaftigkeit; Verhältnis der Komponist*in zu sich selbst


Menschen sind ungeheuer komplexe Wesen. Auch in den (bald beginnenden) Zwanzigerjahren steckt die Psychologie wenn schon nicht in den Kinderschuhen, dann zumindest in der frühen Pubertät. Auch aufgrund von schlampiger Arbeit, die nicht den hohen Standards der Wissenschaft entsprechen, wird bereits etabliertes Wissen über die menschliche Psyche immer wieder umgestoßen.

Ich verbringe einen großen Teil meiner Lebenszeit daran, mich mit meinem psychischen Befinden zu befassen - teilweise unfreiwillig aufgrund erlebter Traumata oder einer mehr oder weniger chronischen Depression - und halte dies auch für ein enorm wertvolles Unterfangen. (Jeder Mensch, der es sich leisten kann, sollte eine Psychotherapie machen.)

Auch musikalisch lässt sich da viel machen. In jeder meiner Kompositionen steckt ein Teil von mir, so ausgelutscht dies auch klingen mag. (Im Detail sehe ich das auch eigentlich etwas differenzierter, aber darüber schreibe ich ein andermal.) Jedes Mal, wenn ich eines meiner Stücke höre, oder gar selbst spiele, holt mich ein Teil meiner Vergangenheit ein. Plötzlich kommen längst verdrängte Gefühle wieder hoch. Und wieder einmal muss ich mich damit befassen, wenn ich meine psychische Gesundheit erhalten möchte.

Das Komponieren als Prozess aufzufassen, dessen Endergebnis letztlich für niemanden außer der Komponist*in interessant sein muss, bedeutet natürlich auch wieder eine Befreiung von hohen Ansprüchen, von Perfektionismus, von der Idee, "die Musik zu revolutionieren", etwas völlig neues zu erfinden, usw.

Also ein weiterer Ansatz, der im Kern anti-ästhetisch ist, oder zumindest ein Potential dazu hat - eine Eigenschaft, die sich 4 von meinen 5 Wegen teilen.

4. Weg: Konzeptuelle Musik; Verhältnis zwischen Werk und außermusikalischen Inhalten


Auch wenn der Begriff "Gehalt" insgesamt breiter ist, so ist dieser Weg wohl derjenige, der die größte Prominenz hat, wenn von Gehaltsästhetik die Rede ist.

Musik also, die um ein Konzept herum aufgebaut ist, die einen außermusikalischen Gehalt hat, die sich vielleicht mit der Welt beschäftigt, die politisch sein kann, die selbst ein Kommentar zur Ästhetik sein kann ("Musik über Musik"). Das Konzept kann so sehr dominieren, dass auch hier wieder die Ästhetik völlig in den Hintergrund tritt - es ist dann egal, wie es klingt, aber es klingt so, wie es klingt, weil es eine konzeptuelle Vorgabe erfüllt.

Es reicht aber natürlich nicht, bloß Musik zu schaffen, und ihr dann zusätzlich eine Bedeutungsebene überzustülpen. Gute konzeptuelle Musik ist solche, bei der die Musik das Konzept braucht, und das Konzept umgekehrt auch ohne die Musik nicht realisiert werden könnte.

5. Weg: Ästhetische Forschung; Verhältnis zwischen Hörer*innen und Musik


Die Frage "Was macht es schön?" kann auch gestellt werden, ohne selbst zu komponieren. Dieser Weg steht also theoretisch Kritiker*innen offen - ich betrachte ihn trotzdem im Kern als der Domäne der Komposition zugehörig, weil ein Gutteil der Komponist*innen "Neuer" Musik des letzten Jahrhunderts mit ihren Werken im Grunde auch oder primär solche Forschung betrieben haben.

Hier nun geht es primär um die Musik als solche, ohne Gehalt, ohne irgendeinen Bezug zu etwas anderem als sich selbst; selbst die Hörer*in ist eine bloße Notwendigkeit, steht aber nicht im Zentrum.

Deswegen ist dieser Weg derjenige, der von Technologie der automatisierten Komposition am meisten profitiert. Ideen darüber, was gut klingt, können anhand von algorithmisch generierten Mustern überprüft werden. Neue Muster können gesucht und gefunden werden. Komplexität muss nicht mehr an der Hörer*in scheitern, sondern kann als Selbstzweck verfolgt werden, und dann umgekehrt wieder als Herausforderung verstanden werden. "Kann ich das heraushören?"

Und es muss nicht nur um Schönheit gehen. Was ist hässliche Musik? Wie grauenvoll kann etwas klingen? Was ist eigentlich unschön, aber kann durch ein verändertes Hören auch wieder als schön erfahren werden? (Und spätestens hier tritt natürlich auch wieder die Beschäftigung mit Musikpsychologie hinzu.)

~ ẞ ~

Für alle diese Wege gilt, dass es noch viele weitere Beispiele gibt, die sich ihnen zurechnen lassen. Multimediale Kunst habe ich kaum erwähnt, und sie lässt sich prinzipiell mit jedem Weg verknüpfen. Und natürlich gibt es sicherlich noch weitere "Wege", die ich komplett übersehe.

Ich könnte hier noch aufzählen, welche dieser Wege im Moment für mich eine Rolle spielen, aber dieser Post ist schon lang genug; ich kann später darauf zurückkommen.

~ Jundurg Delphimė

Montag, 12. November 2018

The Bible According to Google Translate - Genesis 1, 20-25

(What is this? Begin here.)

Genesis 1, 20-25:


And he said. "If you do not drink an empty bird, and the water that is in China, they will fly over. They fly through the sky above the ground."

He made the wild animals and the sea in the sea, their cattle, and their sockets for his sake, and God blessed them abundantly, and filled them with water from the sea, and from the fowl of the air.
And they are not water.

The sky was filled with the angels of the sea, on the fifteenth day of the Pentecost, when the holidays..

He said, "I love animals, wild animals, cattle, and cattle."
Then he said, "Be like wild animals! What is the skin of the skin? Wolf skin is alive."

Most of all the Lord says to the Lord: "Art."

~

It is important to drink empty birds - those are the birds that are not yet filled with water from the sea, I suppose. Oh, and don't forget the water from China, otherwise some beings will fly over; maybe it's those angels of the sea. Which is exactly what happened in the next verse, so someone failed to drink empty birds, I guess.

Or maybe the birds are empty because God used the water stored in them to fill all the other beasts? Was there not enough water in China? I admit, I am a bit confused, but there must be some way to explain this theologically.

"What is the skin of the skin?" sounds like some Zen koan. I can definitely get behind that "Be like the wild animals!" thing, even more if it means that some advanced lycanthropy is involved. Or inwolfed.

~

(It occurs to me that I might at some point have to come up with my own verse numbers, since I am already out of sync. It's just more fun to mesh things together a bit, or use the same verse twice.)

Üpdäätle -45-

Moin,

Nach ca. 2-3 Monaten (?) hab ich jetzt mal den Level 3 meines Gamification-Systems abgeschlossen. Gegen Ende gibt es immer eine Phase, bei der es sich anfühlt, als würde es kaum noch Fortschritte geben - das stimmt aber eigentlich gar nicht; das liegt nämlich daran, dass ich irgendwann an die Ränder des Spielfeldes vorgedrungen bin, und es somit nichts mehr zu entdecken gibt. Meine Siegbedingung war, zwei komplette Ränder (d.h. alle Quests an den Randfeldern) auszufüllen. Dabei war ich eigentlich lange schon ziemlich weit, aber der Weg in die rechte obere Ecke war von einer großen Quest blockiert - den dritten Teil meiner LGBTQIA-Dschungeldurchquerung fertigzustellen. ;-)

Für Level 4 habe ich nicht viel geändert. Die Auswahl der Quests wird jetzt über einen W100 (Prozentwürfel) abgehandelt, mit dem kleinen Twist, dass der Würfelzahl ein Punkt abgezogen wird je unerledigter TODO-Quest. Dadurch steigt die Häufigkeit von bodenlosen Abgründen, und sinkt die Wahrscheinlichkeit von Freie-Quests-Feldern.
TODO-Quests sind allerdings nicht so häufig, aber es sind die eher größeren Brocken, ganz spezifische Dinge, die erledigt werden müssen - im Gegensatz zu allen anderen Quests, die im Prinzip unbegrenzt oft gemacht werden können.

~ ẞ ~

Komposition - ich bin wie quasi immer an ein paar Klavierstücken dran, jetzt hauptsächlich bei den Gunnerkrigg Chords, allerdings in einer anderen Ecke mit neuen Motiven. Besonders hochwertige Stücke sind da meines Erachtens gerade nicht dabei, aber es kommt halt immer ein bisschen was dazu.

Was mir momentan im Kopf herum geht, ist eine Sammlung von Stücken anzufertigen, die eine Dauer von 0-5 Sekunden haben; bestehend aus Einzeltönen oder Einzelereignissen (Geräusche?), um diese am Ende in eine Playlist zu packen mit zufälliger Wiedergabereihenfolge.

Aleatorik fasziniert mich gerade ein bisschen - ich höre tatsächlich zur Entspannung gerade sehr oft John Cage´s Etudes Australes, eben auch in einer großen 2,8-Stunden-Playlist mit zufälliger Wiedergabe. Diese Stücke lassen sich für Laien als im Prinzip zufällige Klaviertöne beschreiben, für Expert*innen eher als extrem schwer zu spielende Etuden. Dass die Stücke so schwer sind, ist nicht zu hören, im Gegenteil wirkt es auf mich eben sehr entspannend. (Aleatorisch im strengeren Sinne sind diese Etuden nur in ihrer Kompositionsweise, nicht in ihrem Ablauf, da sind sie recht streng festgelegt.)

Irgendwann werde ich auch wieder zur algorithmischen Komposition zurückkehren (es juckt mir manchmal schon in den Fingern) - aber das habe ich mir strikt verboten, bis mein Orchesterstück fertig ist.

Achja, mein Orchesterstück ... es fehlen mittlerweile nur noch so etwa ein Dutzend Takte, allerdings sind diese relativ voll. Ich habe nicht vor, sehr viel Energie ins Überarbeiten und Feinschliff zu stecken, also würde ich sagen, bin ich gar nicht mehr soo weit davon entfernt, dass das Ding fertig wird. (Ich habe damit übrigens Ende Oktober 2017 begonnen. Und etwas über ein halbes Jahr von Mitte Dezember bis Juli pausiert.)

~ ẞ ~

Donnerstag, 8. November 2018

LGBTQIA+ Begriffsdschungel - Teil 3: Und der ganze Rest

Im dritten und abschließenden Teil meiner LGBTQIA-Dschungeldurchquerung habe ich neben Ergänzungen zum Bisherigen eine Reihe von "Randthemen" gesammelt - also Themen, bei denen es bestimmte Überschneidungen mit queeren Themen gibt und die oft zusätzliche Komplexitäten hinzufügen.

Bei den meisten davon bin ich keine Expert*in, und habe deswegen auch nur an der Oberfläche gekratzt. Mir geht es eher darum, das Bild abzurunden und zu erwähnen, was ich bei den anderen Teilen ausgespart hatte.

Wie ich auch bei den ersten Teilen in den letzten Wochen/Monaten immer wieder kleine nachträgliche Korrekturen gemacht habe, werde ich das vielleicht auch hier so halten - generell gilt für diesen Teil 3 aber am meisten: Ich hab nur zusammengeschrieben, was ich kenne, und teilweise kaum recherchiert oder nur aus bestimmten Perspektiven - oder es ist sogar einfach meine eigene. ;-) Für Hinweise, wenn ich wo total danebenliege, oder wenn ich noch etwas ergänzen könnte, bin ich dankbar.

~ ẞ ~


Inhalt von Teil 3:

A - LGBTQIA+ und der Rest der Welt
B - Sexismen und Normvorstellungen
C - Polyamorie und alternative Beziehungsformen
D - BDSM
E - Otherkin
F - Multiplizität und DIS

Teil 3: Und der ganze Rest

(Content Note: Diskriminierungen, Sexismen, Gewalt, Trauma)


A. LGTBTQIA+ und der Rest der Welt


* ally (Verbündete)

Allen queeren Identitäten ist gemeinsam, dass sie in der Bevölkerung Minderheiten sind, und daher auf die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft angewiesen sind. Nichtsdestotrotz sind viele erst einmal skeptisch, wenn sich eine nicht-queere Person selbst als "Ally" deklariert - diese Skepsis rührt aus vielen schlechten Erfahrungen.

Zum Beispiel so etwas:
"Wenn ihr so aggressiv seid, braucht ihr euch nicht wundern, dass ihr keine Allies habt" - das kriegen wir so oder in ähnlicher Form öfter mal zu hören. Allerdings - wer nur zu Menschen einer Minderheit hält, wenn diese immer nett zu einem sind, braucht sich eigentlich nicht Ally nennen; dazu gehört auch das Verständnis, dass es wunde Punkte gibt, und dass Menschen, die verletzt werden, eben auch emotional reagieren können.

Die oberste Regel sollte sein, Menschen zuzuhören, wenn sie über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung sprechen - sie wissen es normalerweise besser!

Nichstdestotrotz ist es wichtig, dass manche queere Räume auch Allies offenstehen - vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, dass viele Leute, die sich ihrer Orientierung oder ihres Geschlechts noch nicht richtig bewusst sind, zu Communities Kontakt suchen, und sich zu Anfang erst einmal als Ally deklarieren.

* QUILTBAG

Eine Variante, um sich die Buchstaben in LGBTQIA+ besser merken zu können. Das "U" steht dabei für "undecided".

* angeboren, unveränderlich?

An der Frage, ob Geschlechtsidentitäten und Orientierungen angeboren sind, hängt oft viel, da es ein wichtiges Argument ist, dass von LGBTQIA-Aktivist*innen vorgebracht wird, um für ihre Menschenrechte zu kämpfen. Es ist heikel, das in Frage zu stellen.

Wenn schon nicht angeboren per se, sind doch Orientierung und Geschlecht für die meisten Menschen über ihr ganzes Leben sehr stabil; bei manchen etwas weniger als bei anderen. Ich will aber darauf hinweisen, dass, nur weil etwas veränderlich ist, das noch nicht heißt, dass die Art oder Richtung dieser Veränderung kontrolliert werden kann; und schon gar nicht, dass irgendjemand dazu gezwungen werden darf, es zu versuchen.

Manche Menschen fragen sich ihr Leben lang, ob ein erlebtes Trauma ihre Orientierung oder Geschlechtsidentität beeinflusst hat - das kann recht quälend sein. Aber selbst wenn es eine Vorgeschichte gibt, ist die Identität, so wie sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nunmal ist, nicht weniger valide.

* Psychische Schwierigkeiten

Menschen aus dem LGBTQIA-Spektrum wird sehr oft an den Kopf geworfen, dass sie doch irgendwie gestört oder geisteskrank wären. Aus dieser Perspektive kann es verunsichernd wirken, mit Statistiken konfrontiert zu werden, wie es mit psychischer Gesundheit von LGBTQIA-Personen so steht - nämlich oft nicht gut. Das liegt aber in den meisten Fällen klar daran, dass es zu enorm viel Belastungen führt, in einer Gesellschaft zu leben, die uns nicht akzeptiert, wie wir sind. Gerade bei trans Personen gibt es auch schon Studien, die belegen, dass die Rate an psychischen Krankheiten deutlich geringer ist, wenn sie schlicht in einem Umfeld leben können, das ihnen nicht feindlich gesinnt ist. Für Kinder, die in einer Familie aufwachsen, die ihre Identität nicht akzeptiert, bedeutet das aber leider oft ein lebenslanges Trauma.

* Pathologisierung

Einer der ersten Schritte, gegen eine Gruppe von Menschen vorzugehen, ist, sie als krankhaft darzustellen. Das ist in der Geschichte von Medizin und Psychologie (bis in die Gegenwart) aber ein allgegenwärtiges Phänomen, so sehr, dass es uns manchmal nicht einmal bewusst ist, dass es passiert.

Bis zum ICD-10 im Jahr 1992 war Homosexualität von der WHO als eine psychische Störung klassifiziert. Im kommenden ICD-11 wird Transgender-Sein (oder wie es hieß, "Transsexualismus") zwar aus der Liste der psychischen Störungen genommen, dabei aber Genderdysphorie zum Kapitel 'Conditions Related to Sexual Health' gepackt, in dem sich anderen Unterkapitel auch erektile Dysfunktion, Paraphilien, Exhibitionismus und Voyeurismus befinden - diese Nachbarschaft erzeugt jetzt auch nicht wirklich Begeisterung. Zumindest hat aber ein Umdenken begonnen, das den Fokus auf die Dysphorie selbst als diagnostiziertes Problem lenkt, und die Identität selbst nicht mehr pathologisiert.

Intergeschlechtliche Menschen ringen unterdessen darum, dass ihre Körper nicht als Fehlbildungen abgetan werden, wenn sie doch genauso gut oder schlecht funktionieren wie die anderer Menschen auch.

Zugrunde liegt all diesen Phänomenen der Gedanke "krank ist, was nicht der Norm entspricht" und somit die Idee, es gäbe nur genau eine Art von richtigem Körper und richtigem Leben. Hier befinden wir uns bereits in unmittelbarer Nähe zu faschistischem Gedankengut, das diese Idee noch auf "Völker" ausweitet.

* Gay Conversion Therapy

Besonders im religiös-fundamentalistischen Umfeld gibt es auch heute noch die Idee, dass sich eine von der Heteronormativität abweichende sexuelle Orientierung "wegtherapieren" ließe. Solche Versuche waren (bzw. sind) sehr gewaltvoll und entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage.

B. Sexismen und Normvorstellungen


Begriffe die sich auf gesellschaftliche Strukturen beziehen, sind schwer zu definieren, und da ich keine besonderen Kenntnisse von Soziologie, Gender Studies, etc. mitbringe, werden meine Definitionen vermutlich nicht so formuliert sein, wie sie von Expert*innen verstanden werden. Nehmt diese Auflistung also auch nur als einen groben Überblick.

* Heterosexismus

Die (gesellschaftlich verankerte) Vorstellung, dass nur Heterosexualität normal sei, und jede Abweichung davon unnatürlich und fehlerhaft.

Es geht dabei nicht nur um persönliche vorurteile, sondern auch um gesamtgesellschaftliche Normvorstellungen, die sich z.B. in diskriminierenden Gesetzen niederschlagen, fehlendem gesetzlichen Schutz vor Ungleichbehandlung und auch stillschweigendem Ignorieren von Ausgrenzung, die in Bereichen passiert, die nicht gesetzlich geregelt werden können.

* Monosexismus

Die (gesellschaftlich verankerte) Vorstellung, dass es natürlich und richtig für Menschen ist, sich zu nur einem Geschlecht hingezogen zu fühlen, d.h. entweder heterosexuell oder homosexuell zu sein. Monosexismus ist eine Grundlage für Diskriminierung von Bi*sexuellen.

* Cissexismus

Die (gesellschaftlich verankerte) Vorstellung, dass es natürlich und richtig für Menschen ist, eine Geschlechtsidentität zu haben, die genau derjenigen entspricht, die sie bei der Geburt zugewiesen bekommen. "cissexistisch" ist mehr oder weniger synonym zu "transfeindlich".

Viele Spielarten von cissexistischen Denkens enthalten die Idee, dass es so etwas wie eine Geschlechtsidentität gar nicht gibt, oder dass diese zu 100% biologisch festgeschrieben ist (hier wird allerdings auch auf vereinfachte bzw. veraltete Biologie verwiesen). Eine häufige cissexistische Aussage ist auch "Es gibt nur zwei Geschlechter, und diese sind biologisch fest vorgegeben!".

Auch trans Personen sind davon nicht gefeit - schließlich wachsen wir in einer Gesellschaft auf, die von Cissexismus tief durchtränkt ist. Wenn trans Personen überhaupt in Büchern, Filmen, etc. vorkommen, dann oft als lächerliche Witzfiguren oder als eingestreuter Gag. Wenn es überhaupt zu einer Erwähnung kommt.

* Exorsexismus

Exorsexismus - abgeleitet vom logischen Gatter XOR, also "das eine oder das andere, aber nicht beides" - bezeichnet Feindseligkeit gegenüber nichtbinären Personen. Meistens wird Exorsexismus mit Cissexismus gleich "mitgeliefert", allerdings gibt es auch binäre trans Personen, die nichtbinäre Identitäten für ungültig halten und nichtbinäre Personen aus trans Gruppen ausschließen wollen.

Das wohl verbreitetste Beispiel für üble Hassrede gegen nichtbinäre Personen sind "Witze" der Form von "Ich identifiziere mich als [X]", wobei für [X] etwas möglichst abwegiges eingesetzt wird, um nichtbinäre Identitäten als lächerlich darzustellen.

* Bi-Erasure

Bi*sexuelle werden medial oft weggelassen, versteckt oder wegerklärt. In vielen Köpfen geistert die Idee, dass es Bi*sexuelle eigentlich gar nicht gibt, bzw. dass eine Person lügt, die sich so bezeichnet, wenn sie z.B. in ihrem Leben nur Beziehungen mit Menschen eines Geschlechts hatte.

Bei nachträglichen Zuschreibungen, etwa verstorbenen Prominenten, wird oft bewusst oder unbewusst ignoriert, dass eine Person bi*sexuell war, und sie stattdessen in eine heterosexuelle oder homosexuelle Schublade gesteckt.

* Allosexismus

Die (gesellschaftlich verankerte) Vorstellung, dass es natürlich und richtig für Menschen ist, sich sexuell zu anderen hingezogen zu fühlen, und dass sexuelle Anziehung für ein gelungenes (Erwachsenen-)Leben notwendig ist.

"allosexistisch" sehe ich als synonym zu "ace-feindlich" bzw. "asexuellenfeindlich".

* Amatonormativität (amatonormativity)

Die Vorstellung, dass alle Menschen romantische Beziehungen eingehen wollen oder sollen; dazu gehören auch Ideen wie, dass es zu einem guten Leben dazugehört, mit einer Partner*in zusammenzuziehen, gemeinsam Kinder (und Enkelkinder) zu bekommen, dass Freundschaften niemals romantische Beziehungen ersetzen können, dass Freundschaften weniger wert seien als Liebesbeziehungen, dass sich das Leben um die Partner*in zu drehen hat, und alles andere zweitrangig ist.

C. Polyamorie und alternative Beziehungsformen


Dieses Thema ist sehr komplex, daher versuche ich hier nur, einige Grundbegriffe aufzuzählen - Leser*innen mögen sich für tiefergehendes Einlesen bessere Quellen suchen als meinen Blog.

* Polyamorie

Viele verschiedene Arten, konsensuell mehr als eine (meist als sexuell und/oder romantisch verstandene) Beziehung zu führen, lassen sich unter dem Überbegriff Polyamorie versammeln.

Das entscheidende Merkmal der Polyamorie ist, dass sie konsensuell ist, d.h. dass die Partner*innen sich darüber im Klaren sind, dass es sich um polyamore Beziehungsformen handelt. "Fremdgehen" ist daher nicht polyamor.
 Es kann in polyamoren Beziehungen sehr klar vereinbarte Regeln geben - oder auch die Vereinbarung, möglichst wenige feste Regeln zu haben - und alles dazwischen.

Es gibt unterschiedliche Ansichten dazu, ob Polyamorie für sich genommen "queer" ist. Es gibt natürlich viele cisgender+heterosexuelle+allosexuelle Menschen, die polyamorös leben - und es ist auch nicht abzustreiten, dass auch gegenüber den meisten Formen von Polyamorie große gesellschaftliche Vorurteile bestehen, sowie wenig oder kein rechtlicher Schutz. Klar ist also, dass gegen polyamorös lebende Menschen diskriminiert wird - allerdings ist "queer" historisch ein Schimpfwort, dass sich gegen LGBTQIA-Menschen gerichtet hat, und von diesen heute reclaimt wird.

Auch im Sinne der sprachlichen Praktikabilität ("queer" als schnelles Synonym zu "LGBTQIA+") werde ich Polyamorie nicht als queer bezeichnen. Wenn über gemeinsame Diskriminierungserfahrungen geredet wird, kann dies auch über ein Kürzel wie "queer/poly" gemacht werden.

> Link: Den Comic KimchiCuddles finde ich persönlich einen möglichen guten Einstieg ins Thema.

* Metamour

Eine Partner*in einer Partner*in.

* Mitfreude (compersion)

Während Eifersucht oft für polyamor lebende Menschen ein schwer zu bewältigendes Problem darstellt, gibt es auch deren Gegenteil, die Mitfreude - also eine Freude darüber, dass eine Partner*in eine neue Beziehung mit jemand anderem beginnt oder genießt.

* Triade

Eine Beziehung zwischen drei Personen, die zusammen ein (geschlossenes) Dreieck bilden.

* Polykül (polycule)

Durch polyamore Beziehungen können sich komplizierte soziale Strukturen ergeben, die, wenn sie als Beziehungsdiagramm aufgezeichnet werden, an Moleküle erinnern. In einem großen Polykül kann eine Person die Partner*in der Partner*in der Partner*in ... usw. sein.

* polyfidel, Polyfidelität

Eine Beziehungsform, bei der die Beteiligten ohne Absprache keine weiteren Beziehungen beginnen (ähnlich wie in einer monogamen Ehe) aber es eben mehr als zwei Personen sind, ist polyfidel. Das hat z.B. den Vorteil, gegen sexuell übertragbare Krankheiten geschützter zu sein, weil es ein geschlossenes System ist.

* Relationship Anarchism (Beziehungsanarchie)

Die Idee, dass jede Beziehung zwischen Menschen individuell ist und für sich selbst betrachtet werden sollte; d.h. dass Unterscheidungen zwischen Liebesbeziehungen, sexuellen Beziehungen, usw. zu grob sind, oder deren Regeln zu eng gefasst.

D. BDSM


BDSM ist ein Mehrfachakronym, bei dem jeweils zwei benachbarte Buchstaben zusammen gelesen werden können, und zwar BD als "Bondage und Disziplin", DS als "dominant-submissiv" und SM als "Sadismus und Masochismus". Zwischen BDSM und queeren Communities gibt es Überschneidungen, aber auch hier gilt, dass nicht jede Person, die BDSM praktiziert, queer sein muss.

BDSM ist ein sehr weites Feld, das nicht unbedingt mit Sexualität zu tun haben muss, sondern auch beispielsweise um Erfahrungen von Abhängigsein, Sich-jemandem-voll-Anvertrauen, oder umgekehrt Kontrolle auszuleben.

* safeword

In der BDSM-Szene wird sehr viel Wert auf Konsensualität gelegt, vielleicht sogar mehr als irgendwo sonst. Meist wird dafür ein Safeword vereinbart - ein Wort, das ein unbedingtes Signal dafür ist, dass eine Handlung abgebrochen werden muss.

* Kink

Ein Kink ist eine sexuelle Vorliebe, die als außergewöhnlich angesehen wird.

* Fetisch

Ein Fetisch ist eine sexuelle Vorliebe, die für eine Person so wichtig ist, dass sie ohne diesen Fetisch keine oder fast keine sexuelle Erfüllung erlebt.

E. Otherkin


Otherkin ist eine (Selbst-)Bezeichnung für Personen, die sich nicht zur Gänze als Mensch identifizieren. Dabei ist ihnen bewusst, dass sie in/mit einem menschlichen Körper leben, es geht eher um ein inneres Wesen oder auch um eine Beschreibung des Charakters. Oft wird das auch spirituell verstanden. Womit sich Personen identifizieren, kann sehr unterschiedlich sein, es müssen keine real existierenden Wesen sein.

Manche trans Personen lehnen otherkin Personen ab, weil sie befürchten, dass Analogien gezogen werden, die benutzt werden können, um Transsein zu invalidieren. Allerdings sind viele otherkin Personen selbst trans, sodass es Überschneidungen zur Geschlechtsidentität gibt.

Es kann unterschieden werden zwischen "identifizieren als" und "identifizieren mit". Ersteres entspricht eher der Erfahrung von trans Menschen (sie sind ihr Geschlecht, stellen das fest und teilen es anderen mit), letzteres vielleicht eher otherkin Personen.

> Link: Mein Halbwissen zu diesem Thema stammt zu einem Großteil von einer Podcast-Episode "Sharks have no concept of gender", in der sich trans und (sekuläre) otherkin Personen miteinander unterhalten. Grundtenor ist, dass es prinzipiell harmlos ist, und es daher keinen Grund gibt, anderen ihre Identifikation mit etwas abzusprechen.


F. Multiplizität und Dissoziative Identitätsstörung


(Content Note: Trauma, Gewalt)

Hierauf werde ich nur kurz eingehen, weil es ein sehr heikles Thema ist, und ich auf keinen Fall für Betroffene von DIS sprechen möchte. Der Grund, warum ich es überhaupt erwähne, ist, dass es bei Multiplizität - also mehrere getrennte Personen/Persönlichkeiten/Alters in einem Körper - öfter auch dazu kommen kann, dass die einzelnen davon unterschiedliche Geschlechter oder Orientierungen haben können, wodurch Menschen einen noch einmal anderen Bezug zum LGBTQIA-Spektrum haben können, den ich bisher eben nicht angesprochen hatte.

Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) sind - soweit ich weiß - nach derzeitigem Konsens ein Ergebnis von schwerer Traumatisierung. Dementsprechend ist es sehr wichtig, nicht einfach fröhlich dahinzuphilosophieren, sondern zu beachten, dass es für Betroffene ein unangenehmes Thema ist, und eine Diskussion potentiell triggernd sein kann. Deswegen habe ich den Abschnitt (und den Post) mit Inhaltswarnungen zu Trauma und Gewalt versehen, auch wenn ich nicht explizit darüber spreche.

Das Bild von den "bösen Alter-Egos" ist leider immer noch medial omnipräsent, wenn es um Multiplizität geht. Im Gegenteil haben Alters (d.h. die weiteren Persönlichkeiten) oft den Zweck, vor den traumatisierenden Erfahrungen zu schützen, indem diese Erfahrungen eben vom Rest getrennt werden.

> Link: Mein Halbwissen zum Thema DIS stammt hauptsächlich von einem Youtube-Kanal einer Betroffenen, den ich hier verlinke: MultiplicityAndMe - Natürlich ist das nur eine Perspektive, und es gibt noch sehr viele andere. Genauso wie auch für alle Personen aus dem LGBTQIA-Spektrum bewerte ich die Erfahrungen von Betroffenen insgesamt höher als die der "Expert*innen" (etwa aus der Psychiatrie) - aber natürlich kann niemals eine Einzelperson für die anderen sprechen.

* System

Für die Gesamtheit der Persönlichkeiten in einem Körper wird oft der Begriff "System" verwendet, also etwa formuliert "Wir sind ein multiples System" oder "Ich bin Teil dieses Systems". Manchmal geben sich Systeme selbst noch einen eigenen Namen, um von den einzelnen Alters abzugrenzen - meist gibt es aber eine Persönlichkeit, welche die "ursprüngliche" ist, und den Namen für das System stellt.

* Singlet

Bezeichnung für eine nichtmultiple Person, also für jemand, der*die "alleine im Kopf" ist.

* Median, Median-System

Wie fast überall gibt es auch bei Multiplizität (das an sich schon ein riesiges Spektrum sehr unterschiedlicher Erfahrungen ist) Grauzonen - eine Bezeichnung für etwas zwischen Singlets und multiplen Systemen ist "Median-System".

Ich weiß von keiner Forschung, die einen Zusammenhang zwischen Median-Systemen und Genderfluidität zum Thema hätte - und vermutlich gibt es Leute, die meine Vermutung, dass es hier einen Zusammenhang geben könnte, problematisch finden. Dennoch wollte ich das kurz ansprechen - es gibt allerdings ohnehin zu Median-Systemen noch kaum Information zu finden, und es ist kein psychologischer Fachbegriff, sondern ist nur in einigen Communities von Menschen auf dem multiplen Spektrum verbreitet.

* Tulpas, Soulbonds, "healthy multiplicity"

"Healthy Multiplicity" bezeichnet den Ansatz, Multiplizität nicht als etwas Negatives zu sehen, sondern als etwas Positives oder manchmal sogar Erstrebenswertes. Dieser Begriff ist auch wieder sehr heikel, da viele Betroffene von DIS es (verständlicherweise) sehr negativ aufnehmen, wenn etwas, unter dem sie ihr Leben lang leiden, von anderen als erstrebenswert dargestellt wird.

Aus der tibetischen Mythologie ist der Begriff "Tulpa" entlehnt, der Anfang der 2010er-Jahre im Internet als Bezeichnung für bewusst geschaffene weitere Persönlichkeiten eine weitere Bedeutung angenommen hat.

"Soulbond" ist ein damit eng verwandter Begriff, der sich eher auf literarische Figuren bezieht, die im Kopf von Schriftsteller*innen allmählich ein Eigenleben entwickeln, und eine eigene Perspektive auf die Welt, mit der sich dann die Rolle, die sie als Soulbonds einnehmen, stark von der unterscheiden kann von der, die sie in der Fiktion, der sie entstammen, hatten.

Sowohl Tulpas als auch Soulbonds können natürlich prinzipiell jedes Geschlecht, jede Orientierung (und auch natürlich nicht notwendigerweise menschlich) sein. Ob es dadurch möglich ist, durch deren Einfluss allmählich eine veränderte Geschlechtsidentität oder Orientierung zu haben, ist natürlich auch wieder umstritten und heikel (da es unter Umständen als Legitimation von "Gay-Conversion-Therapy" gelesen werden könnte, oder als Invalidisierung der Identität von LGBTQIA-Personen).

Meinem Eindruck nach (die ich mich vor einigen Jahren etwas mehr damit beschäftigt habe) sind in Tulpa/Soulbond-Communities trans Personen etwas überrepräsentiert, allerdings ist dort die Frage, was Trans-Sein für ein System bedeutet, oft unklarer. Etwa, was es z.B. für eine cis Person bedeutet, sich über viele Jahrzehnte den Kopf mit einer recht selbstständigen Person eines anderen Geschlechts zu teilen - und ob dann der Begriff "bigender" dafür passend ist.


~ ẞ ~


Ich ziehe hier vorerst einen Schlussstrich.

Es lassen sich noch viele Themen aufzählen, die ich ausgelassen habe: Rassismus bzw. Erfahrungen von People of Color, Erfahrungen von autistischen Menschen, gehörlosen Menschen, von Menschen mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund, in Armut, ...

Es gibt eine Unzahl von Überschneidungen, und die Erfahrungen, die Menschen machen, die in mehr als einer Hinsicht nicht der Norm entsprechen (oder der Mehrheitsgesellschaft), können sich drastisch von denen unterscheiden, die "nur" queer sind. Und die meisten Communities orientieren sich auch innerhalb einer Minderheit wieder an der Mehrheit. Das gilt auch für meinen Blog hier, der sich nur an Leute richtet, die mit meiner Art zu schreiben klarkommen. Und ich wüsste ehrlich gesagt nicht, ob Vorleseprogramme für blinde Menschen z.B. hier funktionieren. Oder was sie aus den ganzen scharfen ẞ machen, die ich als ästhetische Trennzeichen einstreue...

Ich denke, es ist meinen Posts anzumerken, dass ich von manchen Themen deutlich weniger Ahnung habe - daher hier nochmal der Hinweis, dass ich gerne noch etwas mehr einbauen kann oder Korrekturen machen, wenn jemand da Bedarf sieht. :-)

~ Jundurg Delphimė