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Mittwoch, 28. November 2018

Fünf Wege für eine Musik des 21. Jahrhunderts

Vor Jahren bin ich auf Harry Lehmanns Die digitale Revolution der Musik gestoßen, und es hat mein Denken über Musik und Ästhetik allgemein in der Folge geprägt. Seine Kernaussage ist, dass die Musik(-ästhetik) sich angesichts technologischer Entwicklungen weiterentwickeln muss, in einer ähnlichen Weise wie sich die Malerei angesichts der neuen Technologie der Photographie verändern musste.

Lehmanns Buch zeigt viele unterschiedliche Probleme auf - die ich nicht mehr wirklich präsent habe, da es eine ganze Weile her ist, dass ich es gelesen habe - aber der von ihm propagierte Ausweg einer Gehaltsästhetik, so sehr ich ihn auch spannend finde, hat in meinem eigenen Schaffen nicht wirklich Einzug gehalten.

Für mich ist Gehaltsästhetik einfach nur einer unter mehreren Wegen, die ich entweder parallel gehen, oder zumindest im Kopf behalten will, falls ich sie selbst nicht verfolge.

Im Moment komme ich auf 5 Wege, die ich weiter unten kurz vorstellen will. Die Bezeichnungen sind noch nicht besonders schön, da muss ich wohl sehen, ob ich etwas Griffigeres finden kann.

Zunächst aber einige Anmerkungen zu einem der "Probleme", das überhaupt dazu führt, dass es Druck zu einer Veränderung gibt.

Computergenerierte Kompositionen


Mit zunehmender Automatisierung wird auch "interessante Neue" Musik irgendwann eine Massenware werden. Noch versuchen Komponist*innen, ihre individuellen Stile zu entwickeln, und sich damit abzuheben, dass nur sie selbst diese wirklich beherrschen. Aber ob durch genetische Algorithmen oder durch andere Methoden, so bin ich überzeugt, wird jeder Stil kopierbar sein. D.h. sobald eine Komponist*in mehrere Werke geschaffen hat, kann ein Computer weitere Stücke in einem ähnlichen Stil produzieren. Vielleicht nicht unbedingt perfekt, solange es nur ein Lernen anhand einzelner Stücke ist - aber wenn gleichzeitig eine große Bibliothek historischer Werke zur Verfügung steht, auf die der Computer gleichzeitig auch noch zugreifen kann - dann könnte die Qualität der computergenerierten Stücke das selbe oder ein höheres Level erreichen als die der menschengemachten.

~ ẞ ~

1. Weg: Persönlichkeit; Verhältnis der Komponist*innen zum Publikum


Wenn Partituren neuer Werke tausendfach erzeugt werden, verliert ein einzelnes Werk als solches an Bedeutung - wohl aber stellt ein menschengemachtes Werk immer noch etwas besonderes dar. Es ist "handgefertigt". Vielleicht führt das dazu, dass es wieder mehr handgeschriebene Noten geben wird, sogar handgeschriebene Partituren, signiert von der Komponist*in - ein Sammlerstück!

In der Popularmusik gibt es ja die Entwicklung, dass sich der Fokus auf Live-Auftritte schiebt; das könnte auch hier grob dazupassen. Das Menschliche wird erlebt, indem die Menschen erlebt werden, anstatt nur die Musik per se. Ist das eine Art außermusikalischer Gehalt? Ich weiß es nicht, aber es ist eine Strategie, wie sich eine Musikpraxis erhalten kann.

Das heißt aber auch, dass der Fokus von Perfektionismus wegrücken darf - denn das ist die Domäne der Technik - da Fehler ja auch zur persönlichen Note beitragen.

2. Weg: Performance; Verhältnis zwischen Komponist*innen und Ausführenden


Ein bisschen überlappt sich das mit dem vorigen Punkt - ich fasse es aber trotzdem noch als etwas eigenes auf, weil es hier eben nicht um den Bezug zum Publikum geht, oder zumindest nur indirekt.

Ich habe mir zum Beispiel Gedanken dazu gemacht, wie Noten eigentlich aussehen können, und dass es einen großen Unterschied macht, wie sie aussehen - weniger wegen technischer Eigenheiten (wie der Versuch am Anfang des 20.Jhdts., vom Fünfliniensystem abzurücken), sondern weil Musiker*innen mit den Noten interagieren. Ich finde es spannend, damit zu experimentieren.

Das ist von der Seite der Komponist*innen her gedacht. Auf der anderen Seite gibt es schlicht die Vielfalt der Interpretation, die von den Musiker*innen einem ansonsten starr vorliegenden Werk hinzufügen. Es muss auch hier nicht um Perfektionismus gehen (auch wenn auch Virtuosität sehr schön sein kann, aber die gibt es im Sport auch), sondern um die Individualität einer einzelnen Aufführung.

Ich möchte also Interpret*innen sehen, die Werke nehmen und sie radikal uminterpretieren, und zwar nicht vorausgeplant (das wäre wieder Komposition), sondern im Augenblick der Aufführung. Der zweite Satz passt gerade nicht zur Stimmung? Dann einfach den dritten vorziehen. Das Tempo ist zu statisch? Plötzliche Tempowechsel einfügen. Taktart ändern. Fehler absichtlich einbauen...

Hier gibt es natürlich einen fließenden Übergang zur Improvisation, der ich aufgrund mangelnder Planung keinen eigenen Punkt gegönnt habe. Naja, ich improvisiere eben auch gerade. ;-) Sie lässt sich allerdings ohnehin nicht klar einem Weg zuordnen, sondern steckt in mehreren drin.

3. Weg: Prozesshaftigkeit; Verhältnis der Komponist*in zu sich selbst


Menschen sind ungeheuer komplexe Wesen. Auch in den (bald beginnenden) Zwanzigerjahren steckt die Psychologie wenn schon nicht in den Kinderschuhen, dann zumindest in der frühen Pubertät. Auch aufgrund von schlampiger Arbeit, die nicht den hohen Standards der Wissenschaft entsprechen, wird bereits etabliertes Wissen über die menschliche Psyche immer wieder umgestoßen.

Ich verbringe einen großen Teil meiner Lebenszeit daran, mich mit meinem psychischen Befinden zu befassen - teilweise unfreiwillig aufgrund erlebter Traumata oder einer mehr oder weniger chronischen Depression - und halte dies auch für ein enorm wertvolles Unterfangen. (Jeder Mensch, der es sich leisten kann, sollte eine Psychotherapie machen.)

Auch musikalisch lässt sich da viel machen. In jeder meiner Kompositionen steckt ein Teil von mir, so ausgelutscht dies auch klingen mag. (Im Detail sehe ich das auch eigentlich etwas differenzierter, aber darüber schreibe ich ein andermal.) Jedes Mal, wenn ich eines meiner Stücke höre, oder gar selbst spiele, holt mich ein Teil meiner Vergangenheit ein. Plötzlich kommen längst verdrängte Gefühle wieder hoch. Und wieder einmal muss ich mich damit befassen, wenn ich meine psychische Gesundheit erhalten möchte.

Das Komponieren als Prozess aufzufassen, dessen Endergebnis letztlich für niemanden außer der Komponist*in interessant sein muss, bedeutet natürlich auch wieder eine Befreiung von hohen Ansprüchen, von Perfektionismus, von der Idee, "die Musik zu revolutionieren", etwas völlig neues zu erfinden, usw.

Also ein weiterer Ansatz, der im Kern anti-ästhetisch ist, oder zumindest ein Potential dazu hat - eine Eigenschaft, die sich 4 von meinen 5 Wegen teilen.

4. Weg: Konzeptuelle Musik; Verhältnis zwischen Werk und außermusikalischen Inhalten


Auch wenn der Begriff "Gehalt" insgesamt breiter ist, so ist dieser Weg wohl derjenige, der die größte Prominenz hat, wenn von Gehaltsästhetik die Rede ist.

Musik also, die um ein Konzept herum aufgebaut ist, die einen außermusikalischen Gehalt hat, die sich vielleicht mit der Welt beschäftigt, die politisch sein kann, die selbst ein Kommentar zur Ästhetik sein kann ("Musik über Musik"). Das Konzept kann so sehr dominieren, dass auch hier wieder die Ästhetik völlig in den Hintergrund tritt - es ist dann egal, wie es klingt, aber es klingt so, wie es klingt, weil es eine konzeptuelle Vorgabe erfüllt.

Es reicht aber natürlich nicht, bloß Musik zu schaffen, und ihr dann zusätzlich eine Bedeutungsebene überzustülpen. Gute konzeptuelle Musik ist solche, bei der die Musik das Konzept braucht, und das Konzept umgekehrt auch ohne die Musik nicht realisiert werden könnte.

5. Weg: Ästhetische Forschung; Verhältnis zwischen Hörer*innen und Musik


Die Frage "Was macht es schön?" kann auch gestellt werden, ohne selbst zu komponieren. Dieser Weg steht also theoretisch Kritiker*innen offen - ich betrachte ihn trotzdem im Kern als der Domäne der Komposition zugehörig, weil ein Gutteil der Komponist*innen "Neuer" Musik des letzten Jahrhunderts mit ihren Werken im Grunde auch oder primär solche Forschung betrieben haben.

Hier nun geht es primär um die Musik als solche, ohne Gehalt, ohne irgendeinen Bezug zu etwas anderem als sich selbst; selbst die Hörer*in ist eine bloße Notwendigkeit, steht aber nicht im Zentrum.

Deswegen ist dieser Weg derjenige, der von Technologie der automatisierten Komposition am meisten profitiert. Ideen darüber, was gut klingt, können anhand von algorithmisch generierten Mustern überprüft werden. Neue Muster können gesucht und gefunden werden. Komplexität muss nicht mehr an der Hörer*in scheitern, sondern kann als Selbstzweck verfolgt werden, und dann umgekehrt wieder als Herausforderung verstanden werden. "Kann ich das heraushören?"

Und es muss nicht nur um Schönheit gehen. Was ist hässliche Musik? Wie grauenvoll kann etwas klingen? Was ist eigentlich unschön, aber kann durch ein verändertes Hören auch wieder als schön erfahren werden? (Und spätestens hier tritt natürlich auch wieder die Beschäftigung mit Musikpsychologie hinzu.)

~ ẞ ~

Für alle diese Wege gilt, dass es noch viele weitere Beispiele gibt, die sich ihnen zurechnen lassen. Multimediale Kunst habe ich kaum erwähnt, und sie lässt sich prinzipiell mit jedem Weg verknüpfen. Und natürlich gibt es sicherlich noch weitere "Wege", die ich komplett übersehe.

Ich könnte hier noch aufzählen, welche dieser Wege im Moment für mich eine Rolle spielen, aber dieser Post ist schon lang genug; ich kann später darauf zurückkommen.

~ Jundurg Delphimė

Montag, 2. Juli 2018

Kleine Sammlung konzeptueller Musikstücke und alberner Werktitel

Quelle: Notizzettel, Txt-Dateien, Einzeiler in alten Notizbüchern...

~ ẞ ~

Konzeptuelle Stücke

1.

Traitor für Kammerensemble: Die Musiker*innen ziehen vor der Aufführung Lose. Eine von ihnen hat die Anweisung, die Dirigent*in überhaupt nicht zu beachten; diese weiß jedoch nicht, wer es ist, und muss es erst im Verlauf des Stückes herausfinden.

2.

Bomb Music für Nachrichtensprecher und Ensemble: Die Anzahl der Töne nach einer Ansage entspricht der Zahl der Todesopfer.

3.

Slacker für Kammerensemble: Jede Musiker*in spielt nur etwa ein bis zwei Drittel ihres Parts. Die restliche Zeit sitzen die Musiker*innen nur auf der Bühne, schlafen, lesen Zeitung, oder trommeln gelangweilt auf ihren Instrumenten. Sie entscheiden frei, wann sie aussetzen, und wieviel sie überhaupt spielen wollen.

Die Instrumente sind nicht klar den einzelnen Musiker*innen zugewiesen sondern werden auch herumgereicht, um zu thematisieren, dass Jobs nicht unbedingt nur von einer Person allein erledigt werden müssen.

Einige Musiker*innen haben überhaupt keine Noten - diese können während der Aufführung anderen ihre Noten entwenden, frei improvisieren oder auch einfach nur dasitzen.

Wenn alle Musiker*innen gleichzeitig beschließen, Pause zu machen, kann es auch zu Momenten völliger Stille kommen.

4.

Bomb Music II (2016) : Alle Musiker*innen haben Kopfhörer und hören Ausschnitte aus Nachrichtensendungen. Jedes Mal wenn in der Sendung gesagt wird, dass Menschen gestorben sind, spielen sie einen Ton; die Lautstärke wird durch die Betroffenheit bestimmt; die Musiker*innen schätzen subjektiv ein, wieviel Bedeutung sie einem Ereignis zuschreiben und spielen dementsprechend eine längere oder kürzere, intensivere oder ruhige Phrase.

Der Text den die Musiker*innen hören wird leicht nach hinten zeitversetzt an eine Wand projiziert, damit das Publikum nachvollziehen kann, auf was gerade reagiert wurde.

5.

Rise für zwei Sänger*innen: Zwei Sänger*innen befinden sich in schalldicht getrennten Räumen. Beide tragen Kopfhörer; was die eine singt, wird live zur anderen übertragen, und umgekehrt.

Beide haben die Anweisung, den Ton zu singen, den sie von der anderen Person durch die Kopfhörer hören. Einer der beiden Kopfhörer transponiert den empfangenen Ton kaum merklich nach oben.

6.

Balance Act: Wie 5, nur dass ein Kopfhörer nach oben transponiert und der andere nach unten.

7.

Nose Game Noise für Kammerensemble: Wenn ein bestimmter Klang ertönt, müssen alle Musiker*innen an die Nase tippen. Wer zuletzt an die Nase tippt, muss die Bühne verlassen. Die Dirigent*in fungiert als Schiedsrichter*in. Das Stück endet, sobald nur noch eine Musiker*in auf der Bühne sitzt.

8.

Die Probenpläne sind gleichzeitig die Noten, nach denen die Musiker*innen spielen.

9.

Dedication für Ensemble: Jede Musiker*in sucht sich eine Person aus dem Publikum aus, deren Sitzverhalten, Gestik, usw. sie als Spielanweisung interpretiert.

Variante: Um das ganze interessanter zu machen, gibt es im Publikum einige Schauspieler*innen, die für Unruhe sorgen und Streit provozieren.

10.

Nichts wird zerstört für 6 Dirigent*innen und 6 Bühnenarbeiter*innen: Auf der Bühne stehen feinsäuberlich aufgebaut die Stühle der nicht anwesenden Musiker*innen. Während dirigiert wird, schieben die Arbeiter*innen große Instrumente quer über die Bühne, werfen dabei Stühle um und rempeln die Dirigent*innen an.

11

Sprecher*in betritt die Bühne und erklärt: "Dieses Stück besteht aus all den Pausen, die zwischen dem 9. März 1760 und dem 24. Juli 1899 komponiert wurden."

12

Wo bleibt der Gongschlag? für Kammerensemble. Während der Aufführung blickt die Dirigent*in immer wieder unruhig nach hinten, schließlich bricht sie ab und ruft "Wo bleibt jetzt endlich der Gongschlag?" - daraufhin sprintet eine Schlagzeuger*in in Sportkleidung auf die Bühne, schlägt auf den Gong, und sprintet wieder zurück hinter das Publikum.

~ ẞ ~

Stücktitel

1

Die Freude des Schlagzeugers über das wiedererlebte Trommeln

2

Erhältlich in Allen Größen, ein mehrsätziges Werk mit den Satzbezeichnungen short, medium, large und x-largo.

3

Tanz der Riesenflöte mit den neunundzwanzig gusseisernen Klapperschlangen

4

Neun grüne Flammenwirbel für Pferd und Orchester

5

DADA stirbt. 9 Todeskrämpfe

6

Mindestens haltbar bis [DATUM DES JURYENTSCHEIDS]

(den verwende ich vllt wirklich mal, falls ich noch bei einem Wettbewerb teilnehmen sollte...)

7

Ein Krummhorn im Zoo für Streichquartett: Die vier Musiker*innen bilden die vier Ecken eines Käfigs, in dessen Mitte ein Krummhorn liegt.

8

Sonate für neun Totenschädel und Maschinengewehr

~ ẞ ~

Die meisten davon sind aus einem alten Notizheft, das ich so mit 19 Jahren begonnen habe. Bomb Music hat mich einige Jahre beschäftigt als Idee, aber ich bin einfach nicht die Sorte Künstler*in, die sowas durchziehen würde... es klingt nach einer potentiell traumatisierenden Erfahrung für Musiker*innen und/oder Publikum.

Mein Ideal einer Instrumentalmusik bezieht in irgendeiner Weise die Musiker*innen selbst ein - ansonsten könnte auch einfach für Computer komponiert werden. Aber da ich mit Menschen aus der Musikszene im Allgemeinen nicht so gut klarkomme, werde ich kaum selbst etwas in die Richtung machen, die ich hier im Laufe des letzten Jahrzehnts skizziert hätte.

Jundurg Delphimė

Donnerstag, 24. Mai 2018

Ein Klavierabend (Mai 2018)

Der folgende Text versucht in erster Linie meine Stimmung während eines Konzertbesuches wiederzugeben. Meine persönliche Sicht mag zwar durchscheinen, der Text ist aber kein getreues Abbild davon.

Es wird durchwegs das generische Maskulinum verwendet, weil in allen diesen Fällen schlicht keine Frauen beteiligt waren.

~ ẞ ~

Ein Abend nur mit Klavierstücken. Ich beschließe hinzugehen, da ich ohnehin später noch jemand in der Innenstadt treffen wollte. Am Eingang umhülle ich mich mit einer dicken Gipsschicht aus Zynismus und Menschenscheu.

Ich gehe ohne die Menschen zu beachten in die letzte Reihe. Meine Stimmung ist antisozial - ich bin nicht hier, um mich den komplizierten ungeschriebenen Regeln auszusetzen, die hier üblich sind. Meine alten Professoren sitzen vorne in der ersten Reihe, plaudern miteinander.

Ich lehne mich zurück. Die Musik ist frisch und klar. All die Entschuldigungen des Komponisten haben meine Erwartungshaltung erhöht, nicht gesenkt. Wofür er sich entschuldigt, das hält er insgeheim für besonders wertvoll, aber kann es nicht sagen, ohne eine Mauer aufzubauen, die vor dem Missbill der Kollegen schützt. Die Musik wird schneller, und langweiliger. Rhythmen, die Eindruck schinden sollen, und die Schwächen verstecken sollen. Ich konzentriere mich darauf, die Schwächen zu hören.

Ruhig sitzen ist eine Tortur. Ich klammere mich an ein Tangle, bewege es leise zwischen den Fingern. Zwischen den Stücken klatsche ich nicht - meine Hände sind nicht frei. Respektlosigkeit, die ich mir erlaube. Es befreit mich, mich unangepasst zu verhalten. Ich bin hier ohnehin ein Fremdkörper, und eigentlich fühle ich mich sogar erst als Fremdkörper wohl.

"Das würde ich heute natürlich nicht mehr so schreiben.", sagt der Komponist. Ja steh doch dazu, denke ich, wenn es dir doch immer noch gefällt. Die pathologische Abgrenzung der Komponisten gegenüber einer naiven Tonalität wirkt mit einem Abstand von mehreren Jahren, nachdem ich mich aus diesem Geschehen zurückgezogen habe, irgendwie lächerlich. Der Abend hätte auch heißen können: Alte Männer und ihre Jugendwerke.  Eines der Stücke ist überhaupt "nur" ein Reigen von Stilkopien. Ich befürworte das, aber sie müssen gut sein. Sie waren langweilig.

Ein Schönberg-Zitat, gerade genug versteckt, um nicht allen aufzufallen, aber nicht genug versteckt, um der Peer-Group nicht sofort aufzufallen. Ich schmunzle, innerlich facepalme ich. Es ist ein Insiderwitz, der dazu dient, in den Kennern das Gefühl einer Überlegenheit hervorzurufen. Wenn es aus einer Kultur kommt, die ohnehin bereits in der Hierarchie an der Spitze der Gesellschaft liegt - oder zumindest um diese heischend herumtanzt - wirkt es überheblich.

Eines der Stücke quält mich besonders. Ich habe versucht, hinter die Kulisse der schillernden Rhythmen zu sehen. Das hätte ich wohl nicht tun sollen - hinter der Fassade ist eine ausgemergelte Harmonik, die nur ein dumpfes Gefühl der Leere auslöst. Bevor das Konzert begann, habe ich mich gefragt, ob es überhaupt Klavierstücke geben kann, bei denen ich mir aktiv wünsche, dass sie zuende gehen. Natürlich gibt es sie. Ich war nur schon zu lange nicht mehr in einem Konzert, sonst hätte ich mir diese Frage nie gestellt.

In der Pause lese ich Judith Butler. Nicht aus Interesse, sondern aus Desinteresse - ich will nicht mitbekommen, was die Professoren vorne reden. Das moralische Ich, das erst entsteht, wenn es eine Anschuldigung gibt, auf die es reagieren muss. Butler über Nietzsche. Früher habe ich in solchen Konzertpausen versucht, mich wie die anderen zu verhalten. Aber das ist eine Qual. Ich rede gerne mit Menschen, aber es gibt hier zu viele ungeschriebene Gesetze der Höflichkeit, die einzuhalten mir einerseits unmöglich, andererseits auch unsympathisch ist. Wen muss ich grüßen, wen muss ich beachten? Muss ich jemanden gratulieren, weil ich ihn kenne, nicht weil es mir gefallen hat?

Vielleicht gibt es Menschen, die zu einem Konzert gehen, um die Probleme der Welt zu vergessen. Ich sehe hier aber in meinem Zynismus nur Leute, die an den Problemen in weitem Bogen vorbeigehen, und für die das hier bereits die Welt ist, die einzige, für die sie sich zuständig fühlen.

"Ich hoffe, dass Sie die Form erkennen können.", sagt der Komponist, und ich frage mich im Nachhinein, was damit gemeint ist. Ich erkenne selten Formen. Aber wozu auch? Die Form wird vor dem Ende des Stückes erkannt: Es wird vorhersehbarer. Die Form wird nach dem Ende des Stückes erkannt? Wozu dann überhaupt noch? Ein Formschema ABA wird, wenn es als Selbstzweck durchlaufen wird, etwas kaputt machen am natürlichen Fluss der Musik. Haydn verstand es, die Form für einen Witz zu nutzen. "Ihr glaubt, dass ich X mache, aber ich mache Y, damit habt ihr nicht gerechnet! Ich bin ja doch schlauer als ihr." Unter einer kilometerdicken Schneeschicht von Angepasstheit ein Funken Aufmüpfigkeit?

Jemand macht eine Andeutung auf Erotik. Das Publikum lacht beschämt - niemand hier ist erwachsen genug, nur alt.

Das letzte Stück - der Komponist liegt im Krankenhaus, sagt ein Mensch, der damit betraut wurde. Niemand will es aussprechen, aber vermutlich liegt er im Sterben, der Komponist. Ich höre nun viel genauer zu. Da ist - endlich - die Authentizität, die ich bei den meisten Stücken davor vermisst habe. Vielleicht liegt es auch nur an der Einführung. Einem Sterbenden zuzuhören, ist etwas anderes, als einem, der sich entschuldigen muss. Am Totenbett gibt es keine Entschuldigungen mehr. Nur: Hört mir zu.

Am Ende klatsche ich doch. Für das letzte Stück, und für die Pianistin. Dann schleiche ich mich mit gesenktem Blick wieder davon. Antisozial zu sein, bereitet mir eine diebische Freude. Oben wieder frische Luft! Die Wiener Innenstadt in einer Sommernacht. Ein Motiv des letzten Stückes begleitet mich noch für eine Weile, dann verhallt es wieder. Ich nehme mir vor, abends den Namen des Komponisten herauszusuchen, und tu es dann doch nicht.

~

Mittwoch, 23. Mai 2018

Kommentar zu vier Thesen von Harry Lehmann

In diesem Vortrag (https://www.youtube.com/watch?v=lfL_AG_N244) stellt Harry Lehmann folgende vier Thesen auf:

I : Stile lassen sich durch KI perfekt reproduzieren

Yup. Das sage ich nun auch schon seit einigen Jahren, und darauf muss die Kunstwelt gefasst sein, auch die Nische der Neuen Musik.

II : Neue Stile lassen sich nur mit semantischen Zusatzinformationen generieren

Hm. Einerseits denke ich schon, dass genuin neue Stile vermutlich der Entwicklung durch Menschen einer bestimmten Zeit bedürfen - aber: Woran bestimmen wir denn überhaupt, dass ein neuer Stil vorliegt? Meine spontane Vermutung wäre, dass dieses Urteil selbst, etwas als neu zu bestimmen, eine menschliche Interpretation ist, die einem Verschiedenen, aber nicht notwendigerweise Neuem, übergeworfen sind. Dann wird das Ganze aber schnell zirkulär: Neu ist, worin Menschen etwas Neues erkennen wollen. Wir bewegen uns von einer Ebene der Interpretation nie weg.

In einem rein technischen Aspekt können KIs sehr wohl neue Stile generieren. Bzw. das werden sie können, allein schon deshalb, weil alle bereits vorhandenen Stile miteinander kombinierbar sein werden. Die allermeisten menschlichen Komponist*innen gehen genauso vor. Lehmann setzt dann doch sehr stark auf konzeptionelle Ansätze, um dem zu entgehen. Können wir aber davon ausgehen, dass KIs nie in der Lage sein werden, Konzepte zu generieren?

Klar, die menschliche Ebene dieser Konzepte kann von Maschinen nur imitiert, nicht gelebt werden. Aber dann sind wir wieder dort, wo wir waren: Musik wie vorgefundene Natur, der von Menschen Bedeutung übergeworfen wird.

Ich halte das übrigens nicht für etwas schlechtes. ;-) Die Fähigkeit oder Tätigkeit, Bedeutung zuzuweisen, muss vom Menschen ausgehen, wenn wir nicht auf irgendwelche transzendenten Mächte wie Götter oder Absoluta zurückgreifen wollen.

III : Die besten Werke transzendieren ihren Stil

Genau hier spricht Lehmann meiner Meinung nach einen entscheidenden Punkt an. Allerdings ist diese Qualität auch die am Schwersten feststellbare. In der Musikgeschichte tendieren wir ganz stark dazu, dem ersten Stück eines Stils die größte Bedeutung beizumessen. Vielleicht nicht dem Allerersten, aber dem ersten, das in einem Stil eine bestimmte Qualitätsmarke übersteigt. Gleichzeitig herrscht eine gewisse Abschätzigkeit gegenüber Komponist*innen vor, die bereits vergangene Stile imitieren. (Teilweise zurecht, wenn diese nämlich nicht an die Qualität der bereits vorhandenen Werke herankommen.)

Aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass ausgerechnet Gustav Mahler die besten denkbaren Symphonien im Stile Gustav Mahlers geschrieben hat. Ist die Qualität des Originals wirklich unübertrefflich?

Diesen Bias, uns an den Erfinder*innen zu orientieren, und neue Werke an den Alten zu messen, ohne deren Qualität gleichzeitig gründlich zu hinterfragen, zu überwinden, halte ich für sehr schwierig. Aber vielleicht liegt darin auch Potential für kommende Generationen. (Kann ich mich musikgeschichtlich in einer Prä-KI-Ära verorten? Ich kann.^^)

Im Gegensatz zu Lehmann lege ich nicht mehr einen so großen Fokus auf außermusikalische Bedeutungsaspekte. Wenn er im Video darauf hinweist, dass ein bestimmtes Merkmal eines Bildes über den Stil hinausweist, so kann ich das nicht so recht nachvollziehen - da fehlt mir auch kunsthistorische Bildung - aber es bleibt auch das dumpfe Gefühl, dass diese Art von Transzendenz wieder nichts anderes ist als eine menschliche Interpretationsebene. Ich suche Qualität allerdings schon auch im Material selbst, trotz aller Bedenken, die Lehmanns Gehaltsästhetische Wende aufwirft.

IV : In ästhetischen Erfahrungen manifestiert sich ein Erfahrungswissen

Das ist für mich einerseits selbstverständlich, andererseits habe ich mich jetzt noch nicht weiter mit Lehmanns Auseinandersetzung über ästhetisches Lernen beschäftigt. (Im Video überspringt er das ja, und ich wollte direkt zu diesem Video einen Kommentar abgeben, bevor ich es wieder vergesse.)

Ich formuliere es gerne so: Kunst wird nicht erlernt, sondern erübt. Es geht nicht um Fachwissen, sondern um Erfahrungen, die gelebt wurden.

Jundurg Delphimė, Mai 2018