Vor Jahren bin ich auf Harry Lehmanns Die digitale Revolution der Musik gestoßen, und es hat mein Denken über Musik und Ästhetik allgemein in der Folge geprägt. Seine Kernaussage ist, dass die Musik(-ästhetik) sich angesichts technologischer Entwicklungen weiterentwickeln muss, in einer ähnlichen Weise wie sich die Malerei angesichts der neuen Technologie der Photographie verändern musste.
Lehmanns Buch zeigt viele unterschiedliche Probleme auf - die ich nicht mehr wirklich präsent habe, da es eine ganze Weile her ist, dass ich es gelesen habe - aber der von ihm propagierte Ausweg einer Gehaltsästhetik, so sehr ich ihn auch spannend finde, hat in meinem eigenen Schaffen nicht wirklich Einzug gehalten.
Für mich ist Gehaltsästhetik einfach nur einer unter mehreren Wegen, die ich entweder parallel gehen, oder zumindest im Kopf behalten will, falls ich sie selbst nicht verfolge.
Im Moment komme ich auf 5 Wege, die ich weiter unten kurz vorstellen will. Die Bezeichnungen sind noch nicht besonders schön, da muss ich wohl sehen, ob ich etwas Griffigeres finden kann.
Zunächst aber einige Anmerkungen zu einem der "Probleme", das überhaupt dazu führt, dass es Druck zu einer Veränderung gibt.
Computergenerierte Kompositionen
Mit zunehmender Automatisierung wird auch "interessante Neue" Musik irgendwann eine Massenware werden. Noch versuchen Komponist*innen, ihre individuellen Stile zu entwickeln, und sich damit abzuheben, dass nur sie selbst diese wirklich beherrschen. Aber ob durch genetische Algorithmen oder durch andere Methoden, so bin ich überzeugt, wird jeder Stil kopierbar sein. D.h. sobald eine Komponist*in mehrere Werke geschaffen hat, kann ein Computer weitere Stücke in einem ähnlichen Stil produzieren. Vielleicht nicht unbedingt perfekt, solange es nur ein Lernen anhand einzelner Stücke ist - aber wenn gleichzeitig eine große Bibliothek historischer Werke zur Verfügung steht, auf die der Computer gleichzeitig auch noch zugreifen kann - dann könnte die Qualität der computergenerierten Stücke das selbe oder ein höheres Level erreichen als die der menschengemachten.
~ ẞ ~
1. Weg: Persönlichkeit; Verhältnis der Komponist*innen zum Publikum
Wenn Partituren neuer Werke tausendfach erzeugt werden, verliert ein einzelnes Werk als solches an Bedeutung - wohl aber stellt ein menschengemachtes Werk immer noch etwas besonderes dar. Es ist "handgefertigt". Vielleicht führt das dazu, dass es wieder mehr handgeschriebene Noten geben wird, sogar handgeschriebene Partituren, signiert von der Komponist*in - ein Sammlerstück!
In der Popularmusik gibt es ja die Entwicklung, dass sich der Fokus auf Live-Auftritte schiebt; das könnte auch hier grob dazupassen. Das Menschliche wird erlebt, indem die Menschen erlebt werden, anstatt nur die Musik per se. Ist das eine Art außermusikalischer Gehalt? Ich weiß es nicht, aber es ist eine Strategie, wie sich eine Musikpraxis erhalten kann.
Das heißt aber auch, dass der Fokus von Perfektionismus wegrücken darf - denn das ist die Domäne der Technik - da Fehler ja auch zur persönlichen Note beitragen.
2. Weg: Performance; Verhältnis zwischen Komponist*innen und Ausführenden
Ein bisschen überlappt sich das mit dem vorigen Punkt - ich fasse es aber trotzdem noch als etwas eigenes auf, weil es hier eben nicht um den Bezug zum Publikum geht, oder zumindest nur indirekt.
Ich habe mir zum Beispiel Gedanken dazu gemacht, wie Noten eigentlich aussehen können, und dass es einen großen Unterschied macht, wie sie aussehen - weniger wegen technischer Eigenheiten (wie der Versuch am Anfang des 20.Jhdts., vom Fünfliniensystem abzurücken), sondern weil Musiker*innen mit den Noten interagieren. Ich finde es spannend, damit zu experimentieren.
Das ist von der Seite der Komponist*innen her gedacht. Auf der anderen Seite gibt es schlicht die Vielfalt der Interpretation, die von den Musiker*innen einem ansonsten starr vorliegenden Werk hinzufügen. Es muss auch hier nicht um Perfektionismus gehen (auch wenn auch Virtuosität sehr schön sein kann, aber die gibt es im Sport auch), sondern um die Individualität einer einzelnen Aufführung.
Ich möchte also Interpret*innen sehen, die Werke nehmen und sie radikal uminterpretieren, und zwar nicht vorausgeplant (das wäre wieder Komposition), sondern im Augenblick der Aufführung. Der zweite Satz passt gerade nicht zur Stimmung? Dann einfach den dritten vorziehen. Das Tempo ist zu statisch? Plötzliche Tempowechsel einfügen. Taktart ändern. Fehler absichtlich einbauen...
Hier gibt es natürlich einen fließenden Übergang zur Improvisation, der ich aufgrund mangelnder Planung keinen eigenen Punkt gegönnt habe. Naja, ich improvisiere eben auch gerade. ;-) Sie lässt sich allerdings ohnehin nicht klar einem Weg zuordnen, sondern steckt in mehreren drin.
3. Weg: Prozesshaftigkeit; Verhältnis der Komponist*in zu sich selbst
Menschen sind ungeheuer komplexe Wesen. Auch in den (bald beginnenden) Zwanzigerjahren steckt die Psychologie wenn schon nicht in den Kinderschuhen, dann zumindest in der frühen Pubertät. Auch aufgrund von schlampiger Arbeit, die nicht den hohen Standards der Wissenschaft entsprechen, wird bereits etabliertes Wissen über die menschliche Psyche immer wieder umgestoßen.
Ich verbringe einen großen Teil meiner Lebenszeit daran, mich mit meinem psychischen Befinden zu befassen - teilweise unfreiwillig aufgrund erlebter Traumata oder einer mehr oder weniger chronischen Depression - und halte dies auch für ein enorm wertvolles Unterfangen. (Jeder Mensch, der es sich leisten kann, sollte eine Psychotherapie machen.)
Auch musikalisch lässt sich da viel machen. In jeder meiner Kompositionen steckt ein Teil von mir, so ausgelutscht dies auch klingen mag. (Im Detail sehe ich das auch eigentlich etwas differenzierter, aber darüber schreibe ich ein andermal.) Jedes Mal, wenn ich eines meiner Stücke höre, oder gar selbst spiele, holt mich ein Teil meiner Vergangenheit ein. Plötzlich kommen längst verdrängte Gefühle wieder hoch. Und wieder einmal muss ich mich damit befassen, wenn ich meine psychische Gesundheit erhalten möchte.
Das Komponieren als Prozess aufzufassen, dessen Endergebnis letztlich für niemanden außer der Komponist*in interessant sein muss, bedeutet natürlich auch wieder eine Befreiung von hohen Ansprüchen, von Perfektionismus, von der Idee, "die Musik zu revolutionieren", etwas völlig neues zu erfinden, usw.
Also ein weiterer Ansatz, der im Kern anti-ästhetisch ist, oder zumindest ein Potential dazu hat - eine Eigenschaft, die sich 4 von meinen 5 Wegen teilen.
4. Weg: Konzeptuelle Musik; Verhältnis zwischen Werk und außermusikalischen Inhalten
Auch wenn der Begriff "Gehalt" insgesamt breiter ist, so ist dieser Weg wohl derjenige, der die größte Prominenz hat, wenn von Gehaltsästhetik die Rede ist.
Musik also, die um ein Konzept herum aufgebaut ist, die einen außermusikalischen Gehalt hat, die sich vielleicht mit der Welt beschäftigt, die politisch sein kann, die selbst ein Kommentar zur Ästhetik sein kann ("Musik über Musik"). Das Konzept kann so sehr dominieren, dass auch hier wieder die Ästhetik völlig in den Hintergrund tritt - es ist dann egal, wie es klingt, aber es klingt so, wie es klingt, weil es eine konzeptuelle Vorgabe erfüllt.
Es reicht aber natürlich nicht, bloß Musik zu schaffen, und ihr dann zusätzlich eine Bedeutungsebene überzustülpen. Gute konzeptuelle Musik ist solche, bei der die Musik das Konzept braucht, und das Konzept umgekehrt auch ohne die Musik nicht realisiert werden könnte.
5. Weg: Ästhetische Forschung; Verhältnis zwischen Hörer*innen und Musik
Die Frage "Was macht es schön?" kann auch gestellt werden, ohne selbst zu komponieren. Dieser Weg steht also theoretisch Kritiker*innen offen - ich betrachte ihn trotzdem im Kern als der Domäne der Komposition zugehörig, weil ein Gutteil der Komponist*innen "Neuer" Musik des letzten Jahrhunderts mit ihren Werken im Grunde auch oder primär solche Forschung betrieben haben.
Hier nun geht es primär um die Musik als solche, ohne Gehalt, ohne irgendeinen Bezug zu etwas anderem als sich selbst; selbst die Hörer*in ist eine bloße Notwendigkeit, steht aber nicht im Zentrum.
Deswegen ist dieser Weg derjenige, der von Technologie der automatisierten Komposition am meisten profitiert. Ideen darüber, was gut klingt, können anhand von algorithmisch generierten Mustern überprüft werden. Neue Muster können gesucht und gefunden werden. Komplexität muss nicht mehr an der Hörer*in scheitern, sondern kann als Selbstzweck verfolgt werden, und dann umgekehrt wieder als Herausforderung verstanden werden. "Kann ich das heraushören?"
Und es muss nicht nur um Schönheit gehen. Was ist hässliche Musik? Wie grauenvoll kann etwas klingen? Was ist eigentlich unschön, aber kann durch ein verändertes Hören auch wieder als schön erfahren werden? (Und spätestens hier tritt natürlich auch wieder die Beschäftigung mit Musikpsychologie hinzu.)
~ ẞ ~
Für alle diese Wege gilt, dass es noch viele weitere Beispiele gibt, die sich ihnen zurechnen lassen. Multimediale Kunst habe ich kaum erwähnt, und sie lässt sich prinzipiell mit jedem Weg verknüpfen. Und natürlich gibt es sicherlich noch weitere "Wege", die ich komplett übersehe.
Ich könnte hier noch aufzählen, welche dieser Wege im Moment für mich eine Rolle spielen, aber dieser Post ist schon lang genug; ich kann später darauf zurückkommen.
~ Jundurg Delphimė
@JD: Bravissimo, vielen Dank für diesen äußerst gehaltvollen (sic) Post, die Klarheit deiner Gedanken und die entschiedene Subjektivität deines Blicks :-) Bin so frei, ihn auf der Weltsicht zu empfehlen.
AntwortenLöschenFreut mich, dass etwas ankommt. :)
Löschen@JD: Herzliche Grüße im Namen von Dr. Lehmann! Er hat deinen Post gelesen und er hat ihm gefallen.
AntwortenLöschenStefan