Mittwoch, 27. September 2023

Buchreviews - Judith Merryl, Arkady Martine, Ruthanna Emrys, Chuck Tingle

 Ein paar Buchreviews von diesem Jahr...

 

 (ursprünglich gepostet im Januar 2023)

Homecalling (1956) von Judith Merril (1923-1997)

Hab neulich aus dem öffentlichen Bücherregal ein Science-Fiction Buch mitgenommen.^^ Im Band Daughters of the Earth sind drei Novellen; die erste war ziemlich meh (aber hatte eine gewisse 50er-Jahre weirdness, so dass ich es nicht weggelegt habe, war ja außerdem nicht so lang). Die zweite, titelgebende (von 1952), war recht gut - erzählte die eine Familiengeschichte von Kolonistinnen über 5 (6?) Generationen. Die dritte, Homecalling (1956), fand ich dann aber wirklich cool.

Das Setting ist simpel: Eine Rakete ist abgestürzt auf einem unbekannten Planeten; die einzigen Überlebenden sind ein achtjähriges Mädchen und dessen kleiner Bruder, noch ein Krabbelkind. Es entspinnt sich eine First-Contact-Geschichte mit den nativen Bewohnern, insektoide Wesen mit telepathischer Kommunikation. (Ebenfalls heute ja ein recht etabliertes SF-Trope)

Was ich richtig cool fand daran war die Art der Missverständnisse. Sie waren niemals bösartig, sondern einfach nur Unverständnis wie die anderen funktionieren - wobei der Schwerpunkt dabei darauf liegt, dass die Big Mother der Aliens verzweifelt versucht, aus den Gedanken eines traumatisierten Mädchens schlau zu werden, und immer absurdere Hypothesen über deren Motivation aufstellt. Gerade auch die Telepathie fand ich spannend und feinfühlig dargestellt.

Es ist recht kurz und mit offenem Ende, das ich aber recht schön fand.

Bei allen drei Novellen kommt natürlich die typische Early-SF-Weirdness dazu; Menschen kolonisieren den Mond, verwenden aber Schreibmaschinen für das Protokoll (wenn ich das richtig im Kopf habe); andere Planeten haben relativ häufig eine atembare Atmosphäre; der Pluto ist definitiv ein guter Ort für eine Siedlung, und (in der zweiten und dritten Novelle) andere Planeten haben Wälder mit Bäumen und das ist nicht mal besonders ungewöhnlich. :D

Mal sehen, ob ich mir noch mehr Bücher besorge. Die Bibliothek hier in der Nähe hat sie natürlich, die sind ja gerade auf alte SF spezialisiert.

 

(ursprünglich gepostet im Februar 2023)

A Memory Called Empire (2019) und A Desolation Called Peace (2021) von Arkady Martine

Die Protagonistin ist die Botschafterin einer kleinen Raumstation, die ins Herz eines Imperiums reist, um dort besagte Station zu vertreten. Ich mag, dass in beiden Büchern immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig Spannungen auftreten; einmal politische Intrigen des Imperiums, dann persönliche Konflikte, und schließlich eine innere Zerissenheit einer Person, die die Kultur des Imperiums liebt, aber doch nicht zugehörig ist, immer "die Barbarin von außerhalb" bleibt. Zwar ist es eine "große" Geschichte, in der es um das Schicksal eines Imperiums geht, aber der Fokus ist nah an den Protagonist*innen, und es ist nie so einfach, wie es sein könnte, weil persönliche Interessen und politische gegeneinander krachen. Dazu noch eine it's complicated lesbische Beziehung und guter Weltenbau (Die Leute im Imperium haben Namen wie Three Seegrass und Eight Antidote) mit starkem Fokus auf Sprache und Poesie. (Die Sprache der Politik sind Gedichte.)

Das erste Buch hat den Fokus auf politischen Intrigen und einer bewusstseinsverändernden Technologie, das zweite hat ein First-Contact Szenario. Mehr will ich nicht spoilern, es ist wirklich gut. :D

Und als kleiner Bonus: Kittens in space!

"She had begun petting the Kauraanian kitten, and it purred like it wanted to be a starship engine when it grew up." :D

Die Bücher haben einen ernsten Tonfall aber es gibt immer mal wieder so Sätze, die mich grinsen lassen.^^

 

 (ursprünglich gepostet im März 2023)

Winter Tide (2017) und Deep Roots (2018) von Ruthanna Emrys

Nach dem zweiten Weltkrieg werden die letzten zwei Überlebenden aus Innsmouth freigelassen. Die Protagonistin will vor allem die Bücher ihrer Familie, Ahnen und Götter zurückbekommen, aber dabei muss sie sich irgendwie mit dem FBI gutstellen, denn im Hintergrund droht der Atomkrieg und was, wenn die Russen magische Rituale stehlen?

Ich tu mir schwer, diese Bücher zu beschreiben. Cthulhu-Mythos aber aus der Sicht der Deep Ones, die mit dem Trauma eines Genozids leben müssen; eine durchgemischte Gruppe an Nebenfiguren, die eine kleine magische Chosen Family um die Protagonistin bilden. Und die ist ganz bewusst so, dass Lovecraft im Grab rotieren würde. Aus dem Nachwort des zweiten Buchs: "Lovecraft´s Sandbox remains an excellent place to play, even as his fears seem more relevant than ever. I thank him for leaving it open for the monsters to join in the fun, and offer in exchange however much exercise one can get by spinning in one´s grave."

Ich bin tatsächlich mit der Erwartung herangegangen, dass es relativ wenig magisch würde, dass also das Umdrehen der Perspektive bei Lovecrafts Setting dazu führt, dass halt die Monster in Wirklichkeit eh viel menschlicher sind. Und ... menschlicher, ja. Für die Protagonistin sind die Deep Ones eben keine Monster, sondern u.a. ihr Opa, der sich freut, sie wiederzusehen. Aber es geht sehr magisch zu, und Lovecraftsche Aliens sind mitten dabei. Ich glaube, mir war es tatsächlich zunächst ein bisschen zu magisch - im zweiten Buch hat die Magie dann aber einen viel stärkeren Science-Fiction-Vibe, und ... hm, wo ich darüber nachdenke, auch Cyberpunk-Aspekte, 40er-Jahre oder nicht.

Wie gesagt bin ich keine Lovecraft-Kenner*in und hab vermutlich vieles nicht mitgekriegt, bzw. ich kenne jetzt nur die Subversion und nicht das Original. Was mir gut gefallen hat, ist der sensible Umgang mit den Figuren, umgeben vom Rassismus und Sexismus der Zeit. Das Ensemble der Nebenfiguren ist bewusst gewählt. Etwas schwächer fand ich die Plots selbst. Aber nicht, dass die schlecht oder langweilig gewesen wären, nur ein bisschen mäandrierend und manchmal muss halt erstmal dieses oder jenes Ritual durchgeführt werden, bevor es weitergeht.

Ïa Cthulhu.

 

 (ursprünglich gepostet im September 2023)

Camp Damascus - Chuck Tingle

Ich versuche, nicht zu spoilern, aber natürlich schreibe ich über das Buch, also Vorsicht.^^

Mein Eindruck während dem Lesen und mein Eindruck im Nachhinein unterscheiden sich, weil dieses Buch enorm viel Foreshadowing (buchstäblich, im ersten Satz "You don't have a shadow") betreibt. Die ersten Kapitel hab ich erstmal so reingelesen, ohne besonders involviert zu sein... klar, es ist Chuck Tingle, und ich habe sehr darauf gehofft, dass es gut ist, weil mir der Typ halt enorm sympathisch ist. Aber die ersten Kapitel plätschern erstmal so dahin, irgendwie amerikanisch, christlicher Fundamentalismus wie ich ihn einerseits nicht selbst erlebt habe, andererseits er mir doch nicht unvertraut ist. (Tingle ist aus Utah, von daher wundert es mich nicht, dass er damit vertraut ist.) Braver Familienalltag...

Dann geht es plötzlich los mit Horror, und das Buch nimmt Fahrt auf. Und nach dem Lesen verstehe ich plötzlich, warum die ersten Kapitel mir so komisch vorkamen - war Absicht.

Jetzt hab ich gerade noch die 4 Tumblr-Posts gelesen, in denen Chuck Tingle das Buch selbst analysiert, und ... holy shit, da sind viele Anspielungen und Referenzen drin, die mir gar nicht aufgefallen sind. Ich stimme zu, dass es die Sorte Buch ist, bei der Spoiler den Leseeindruck stören, daher nur die witzige Einleitung zum vierten Post:

"here we are again talkin on camp damascus and unwrapping every little secret and hidden layer of this book. think of this time together like an old time ENGLISH CLASS where the dang teacher says 'well by THIS SYMBOLISM the author was actually commenting on how good chocolate milk is' only this time we get to talk on TINGLERS and your teacher is the buckaroo himself, chuck tingle."

Dass Heiße Schokolade vorkommt, ist denke ich ein vertretbarer Spoiler. :D

Also, ist das Buch gut? Ja. Wie ich es mit anderen Büchern vergleichend bewerten würde - ufff keine Ahnung. Ich würde sagen, praktisch kein Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe (mit Ausnahme vielleicht von NK Jemisin) war so präzise geschrieben. Jedes Kapitel hat seinen Grund. Der Plot ist auf die Message hin ausgerichtet, und mäandriert nicht, auch wenn es zuweilen so scheint. Und die (own-voice) autistische Protagonistin ist wunderbar geschrieben. Vielleicht ist es das, was ich als "präzise" versuche zu beschreiben: Andere Bücher sind voller Metaphern, aber die sind halt ... irgendwie. In diesem Buch ist jede Anspielung und Metapher Absicht und gewissermaßen logisch.

Das Thema selbst - Horror und ein Gay Conversion Camp - ist natürlich düster; das Buch macht richtig schön wütend, weil das Beschriebene zwar fiktional ist, aber ganz klar ist, dass genau diese Denke real eben auch existiert. Wer im Leben wenig mit christlichem Fundamentalismus zu tun hatte, mag manches überzogen vorkommen. Auf mich wirkt es authentisch, ich habe solche Leute getroffen. Das Buch trifft den richtigen Ton, es wird weder Religion komplett gebasht noch irgendetwas ansatzweise schöngeredet.

Der Horror-Anteil hat mich anfangs davon abgehalten, das Buch am späten Abend zu lesen. *schauder* Aber es ist kein Horror um des Horrors willen, sondern mit Grund so eingesetzt, und der Schreibstil ist nicht darauf ausgelegt, extra Angst zu machen. Es ist irgendwie das genaue Gegenteil von Wolfgang Hohlbein: Bei ihm ist alles Spannung, Horror, aber wenig durchdachter Plot und schon gar keine Message. Bei Tingle ist es: Message, daraus abgeleitet Plot und Horror soviel wie eben nötig.


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