Der folgende Text versucht in erster Linie meine Stimmung während eines Konzertbesuches wiederzugeben. Meine persönliche Sicht mag zwar durchscheinen, der Text ist aber kein getreues Abbild davon.
Es wird durchwegs das generische Maskulinum verwendet, weil in allen diesen Fällen schlicht keine Frauen beteiligt waren.
~ ẞ ~
Ein Abend nur mit Klavierstücken. Ich beschließe hinzugehen, da ich ohnehin später noch jemand in der Innenstadt treffen wollte. Am Eingang umhülle ich mich mit einer dicken Gipsschicht aus Zynismus und Menschenscheu.
Ich gehe ohne die Menschen zu beachten in die letzte Reihe. Meine Stimmung ist antisozial - ich bin nicht hier, um mich den komplizierten ungeschriebenen Regeln auszusetzen, die hier üblich sind. Meine alten Professoren sitzen vorne in der ersten Reihe, plaudern miteinander.
Ich lehne mich zurück. Die Musik ist frisch und klar. All die Entschuldigungen des Komponisten haben meine Erwartungshaltung erhöht, nicht gesenkt. Wofür er sich entschuldigt, das hält er insgeheim für besonders wertvoll, aber kann es nicht sagen, ohne eine Mauer aufzubauen, die vor dem Missbill der Kollegen schützt. Die Musik wird schneller, und langweiliger. Rhythmen, die Eindruck schinden sollen, und die Schwächen verstecken sollen. Ich konzentriere mich darauf, die Schwächen zu hören.
Ruhig sitzen ist eine Tortur. Ich klammere mich an ein Tangle, bewege es leise zwischen den Fingern. Zwischen den Stücken klatsche ich nicht - meine Hände sind nicht frei. Respektlosigkeit, die ich mir erlaube. Es befreit mich, mich unangepasst zu verhalten. Ich bin hier ohnehin ein Fremdkörper, und eigentlich fühle ich mich sogar erst als Fremdkörper wohl.
"Das würde ich heute natürlich nicht mehr so schreiben.", sagt der Komponist. Ja steh doch dazu, denke ich, wenn es dir doch immer noch gefällt. Die pathologische Abgrenzung der Komponisten gegenüber einer naiven Tonalität wirkt mit einem Abstand von mehreren Jahren, nachdem ich mich aus diesem Geschehen zurückgezogen habe, irgendwie lächerlich. Der Abend hätte auch heißen können: Alte Männer und ihre Jugendwerke. Eines der Stücke ist überhaupt "nur" ein Reigen von Stilkopien. Ich befürworte das, aber sie müssen gut sein. Sie waren langweilig.
Ein Schönberg-Zitat, gerade genug versteckt, um nicht allen aufzufallen, aber nicht genug versteckt, um der Peer-Group nicht sofort aufzufallen. Ich schmunzle, innerlich facepalme ich. Es ist ein Insiderwitz, der dazu dient, in den Kennern das Gefühl einer Überlegenheit hervorzurufen. Wenn es aus einer Kultur kommt, die ohnehin bereits in der Hierarchie an der Spitze der Gesellschaft liegt - oder zumindest um diese heischend herumtanzt - wirkt es überheblich.
Eines der Stücke quält mich besonders. Ich habe versucht, hinter die Kulisse der schillernden Rhythmen zu sehen. Das hätte ich wohl nicht tun sollen - hinter der Fassade ist eine ausgemergelte Harmonik, die nur ein dumpfes Gefühl der Leere auslöst. Bevor das Konzert begann, habe ich mich gefragt, ob es überhaupt Klavierstücke geben kann, bei denen ich mir aktiv wünsche, dass sie zuende gehen. Natürlich gibt es sie. Ich war nur schon zu lange nicht mehr in einem Konzert, sonst hätte ich mir diese Frage nie gestellt.
In der Pause lese ich Judith Butler. Nicht aus Interesse, sondern aus Desinteresse - ich will nicht mitbekommen, was die Professoren vorne reden. Das moralische Ich, das erst entsteht, wenn es eine Anschuldigung gibt, auf die es reagieren muss. Butler über Nietzsche. Früher habe ich in solchen Konzertpausen versucht, mich wie die anderen zu verhalten. Aber das ist eine Qual. Ich rede gerne mit Menschen, aber es gibt hier zu viele ungeschriebene Gesetze der Höflichkeit, die einzuhalten mir einerseits unmöglich, andererseits auch unsympathisch ist. Wen muss ich grüßen, wen muss ich beachten? Muss ich jemanden gratulieren, weil ich ihn kenne, nicht weil es mir gefallen hat?
Vielleicht gibt es Menschen, die zu einem Konzert gehen, um die Probleme der Welt zu vergessen. Ich sehe hier aber in meinem Zynismus nur Leute, die an den Problemen in weitem Bogen vorbeigehen, und für die das hier bereits die Welt ist, die einzige, für die sie sich zuständig fühlen.
"Ich hoffe, dass Sie die Form erkennen können.", sagt der Komponist, und ich frage mich im Nachhinein, was damit gemeint ist. Ich erkenne selten Formen. Aber wozu auch? Die Form wird vor dem Ende des Stückes erkannt: Es wird vorhersehbarer. Die Form wird nach dem Ende des Stückes erkannt? Wozu dann überhaupt noch? Ein Formschema ABA wird, wenn es als Selbstzweck durchlaufen wird, etwas kaputt machen am natürlichen Fluss der Musik. Haydn verstand es, die Form für einen Witz zu nutzen. "Ihr glaubt, dass ich X mache, aber ich mache Y, damit habt ihr nicht gerechnet! Ich bin ja doch schlauer als ihr." Unter einer kilometerdicken Schneeschicht von Angepasstheit ein Funken Aufmüpfigkeit?
Jemand macht eine Andeutung auf Erotik. Das Publikum lacht beschämt - niemand hier ist erwachsen genug, nur alt.
Das letzte Stück - der Komponist liegt im Krankenhaus, sagt ein Mensch, der damit betraut wurde. Niemand will es aussprechen, aber vermutlich liegt er im Sterben, der Komponist. Ich höre nun viel genauer zu. Da ist - endlich - die Authentizität, die ich bei den meisten Stücken davor vermisst habe. Vielleicht liegt es auch nur an der Einführung. Einem Sterbenden zuzuhören, ist etwas anderes, als einem, der sich entschuldigen muss. Am Totenbett gibt es keine Entschuldigungen mehr. Nur: Hört mir zu.
Am Ende klatsche ich doch. Für das letzte Stück, und für die Pianistin. Dann schleiche ich mich mit gesenktem Blick wieder davon. Antisozial zu sein, bereitet mir eine diebische Freude. Oben wieder frische Luft! Die Wiener Innenstadt in einer Sommernacht. Ein Motiv des letzten Stückes begleitet mich noch für eine Weile, dann verhallt es wieder. Ich nehme mir vor, abends den Namen des Komponisten herauszusuchen, und tu es dann doch nicht.
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Nachtrag: Einen Tag später habe ich den Namen des Komponisten des letzten Stückes dann doch noch recherchiert. Er starb heute, am 24. Mai. Ich fühle mich ein klein wenig schäbig, dass er Teil dieses doch recht bösen satirischen Textes ist.
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... Georg Aranyi-Aschner, 1923-2018. R.I.P.
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